„Je länger ich meine vier Wände nicht verlassen kann und darf, desto weniger gibt es hier für mich zu denken und entwickeln.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen, die Wartezeit damit zu überbrücken, einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Den Anfang macht Sebastian van Vugt, Sänger und Gitarrist der Band Baldabiou, der In guter Nachbarschaft #22 in wunderbare Songs kleidete.

Sebastian van Vugt solo (c) Lena Laine - Kopie
Sebastian van Vugt (Foto: Lena Laine)

Lieber Sebastian, wie geht’s dir derzeit?

Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ich befinde mich in einer äußerst privilegierten Situation, da ich weder systemrelevante Arbeit leiste(n muss) noch gänzlich auf Erträge aus freischaffender künstlerischer Arbeit angewiesen bin. Ich bin zwar seit mittlerweile 11 Tagen aufgrund von Quarantäne mehr oder weniger isoliert, was schon bedrückend ist, kann mich aber im Vergleich weniger beschweren. Ich bekomme regulär mein Gehalt und kann meine Lohnarbeit aus dem Home Office erledigen.

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder lähmt dich dieser Zustand eher?

Tatsächlich konnte ich in den ersten Tagen der sozialen Abgrenzung sehr viel künstlerisch arbeiten. Ich habe einen Podcast angefangen, den ich schon lange vorhatte, an meinem nächsten Roman ein wenig weitergeschrieben und ein Video mit Musik aufgenommen. Insofern hat mich der Zustand erst wenig gelähmt. Je länger er jedoch anhält, desto mehr schläft die Inspiration und auch Energie ein. Es ist ein bisschen so, wie schon in der Philosophie bekannt, dass der Raum in dem man sich befindet, das denken auch mitbestimmt. Ich habe das Gefühl, je länger ich meine vier Wände nicht verlassen kann und darf, desto weniger gibt es hier für mich zu denken und entwickeln. Gelähmt bin ich aber noch nicht. Ich glaube, für mich ist für die Planung künstlerischer Projekte gerade am schwierigsten, mit der Unklarheit der Dauer dieser Situation umzugehen, da nichts mehr planbar scheint.

Du hast einen Podcast aufgenommen, den du schon länger geplant hattest. Darin sprichst du über verschiedene Raumkonzepte, etwa den Raum als Gefängnis oder als Schutzzone. Ist das Thema für dich jetzt akut geworden?

Der Ausgangspunkt, einen Podcast machen zu wollen, war ein sprachphilosophischer. Ich hab mich einfach dafür interessiert, das, was hinter Worten oder der Sprache steht, etwas aufzubrechen und dem Dasein, das hinter Worten verborgen ist, eine eigene Sprache zu geben, die nicht konkret bezeichnet. Den Begriff „Raum“ hatte ich eigentlich nicht auf der Liste, weil Raum für mich – vielleicht auch weil ich so privilegiert aufgewachsen bin – nie einen großen Unterschied gemacht hat und mich auch theoretisch nie interessiert hat. Aber als ich dann so in meinem Zimmer unter Quarantäne saß, wurde das plötzlich deutlich. Das fing damit an, dass ich erst dachte, ich könnte ein Mixtape zum Thema Raum machen. Und dann hab ich gemerkt, als ich mein Bücherregal durchgegangen bin, wie mich das Thema doch von überall angestarrt hat. Dass es sich mir wiederum zu erscheinen gab, lag sicherlich daran, dass auf oberflächlicher und offenbarer Ebene gerade Raumpolitiken durchgesetzt werden. Sowohl innerhalb von Städten und Ländern als auch eben an Grenzen. Und diese Raumpolitiken treffen natürlich insbesondere die Menschen, für die die Durchlässigkeit von Räumen relevant ist und die oft auch prekär leben. Insofern gibt es räumlich gesehen krasse Widersprüche. Ich nehme natürlich meine 1-Raum-Quarantäne als ein Gefängnis war, weil ich Freiheit zu einem gewissen Maße gewohnt bin, aber gleichzeitig ist diese Rückzugsmöglichkeit ein Schutzraum. Wenn man sich hingegen das Raumgefängnis bspw. an den EU-Außengefängnissen anguckt, ist es ein krasser Gegensatz dazu. Das Thema „Raum“ hat sich mir also als sehr drängend erschlossen.

Durch das erwähnte Musikvideo machst du aufmerksam auf die Situation der Flüchtenden, die derzeit in Camps wie Moria auf Lesbos einer besonders gefährlichen Situation ausgeliefert sind. Welche Hoffnungen verbindest du mit der aktuellen Situation hinsichtlich der Zeit danach?

Ich trau’ mich gerade kaum, etwas zu hoffen. Mein Wunsch ist es – und ich versuche das, durch die Aufmerksamkeit, die ich erzeugen kann, zu unterstützen –, dass in dieser Situation klar wird, wie wichtig (internationale) Solidarität für Gesellschaften ist. Ich wünsche mir, dass allen klar wird, dass Krisensituationen und gesellschaftlicher Wandel, der eh immer stattfindet, nicht durch Abgrenzungsgesten eine plausible Lösung findet, sondern darin, dass alle sich, so gut sie es vermögen, unterstützen. Entsprechend wünsche ich mir vor allem, dass sich die Menschen ihrer Privilegien bewusst werden und den Menschen, die es brauchen, ihre Hilfe anbieten, ohne erstmal groß Rechnungen und Bilanzen aufzumachen. Insofern ist meine Hoffnung, da ist sie dann doch, dass den Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen geholfen wird und sie die best mögliche Unterstützung bekommen, noch bevor dort endgültig eine Katastrophe geschieht. Dass ihnen ein wirklicher Schutzraum geboten wird, in dem wir sie aufnehmen und uns solidarisch zeigen. Es sollte doch wirklich allen klar sein, dass die Situation dort eh schon und jetzt noch viel mehr unerträglich und unmenschlich ist.


Du warst Ende Oktober 2019 bei uns in Jena zu Gast. Woran hast du in der Zwischenzeit gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

Bis zur Corona-Situation habe ich primär am neuen Album gearbeitet, das wir (Baldabiou) gerne im Herbst aufnehmen wollten/wollen. Wir hatten glücklicherweise im Februar, als Sturmtief Sabine den Rückweg aus Lüneburg verhinderte, noch die Gelegenheit, ein Probenwochenende einzulegen, und die Songs sind insofern mehr oder weniger arrangiert. Meinen Roman kann ich trotz Corona-Situation regulär bearbeiten. Jetzt hatte ich sogar die Gelegenheit, das mit dem Podcast anzufangen und habe ein kleines Literaturkollektiv mitgegründet, das aber noch in den Kinderschuhen steckt. Was tatsächlich verhindert ist, sind die paar Konzerte, die wir für April/Mai geplant haben. Daraus wird wohl nichts bzw. sind sie teilweise schon abgesagt. Bei den Festivals im Mai/Juni bin ich mal gespannt, rechne aber auch mit Absagen. Insgesamt verläuft die Situation für mich aber glimpflich, da ich hinsichtlich Konzerte eh eine kleine Pause geplant hatte. Für Jan [Frisch, Gitarre/Bass – Anm. M.O.] ist das deutlich drastischer, da er keiner Lohnarbeit nebenher nachgeht, und bei Tobi [Schormann, Drums – Anm. M.O.] in Oldenburg hat das Theater auch seinen Spielbetrieb unterbrochen…

Welche Hilfen erwartest du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

Was die Situation meines Erachtens deutlich macht, ganz unabhängig ob Künstler:in oder nicht, dass ein Großteil der gesellschaftlich relevanten Arbeiten von Menschen übernommen werden, die sich in der ökonomischen Ungleichheit am unteren Ende befinden und sehr prekär leben. Das gilt insbesondere für die sogenannten systemrelevanten Jobs, die schlicht unterbezahlt sind, aber ebenso für die (freischaffende) Künstler:innenszene. Wer in der Kulturbranche unterwegs ist, weiß eh seit Jahren, dass alles finanziell sehr knapp bemessen und die Prekarität sehr groß ist bei gleichzeitig sehr hohem gesellschaftlichem Bedarf bzw. Nachfrage nach Kulturproduktion bzw. -konsumption. Das passt vorne und hinten nicht zusammen! Und ich glaube oder hoffe zumindest, dass das in dieser Situation endgültig flächendeckend bewusst wird. Weil viele, die sich jetzt sozial isoliert (in Quarantäne oder nicht) zu Hause befinden, merken, wie unglaublich viel ihnen eigentlich Kultur/Kunst für ihr Wohlbefinden zu geben vermag und wie unersetzbar die Live-Situation dafür ist. Und dass es eben auch ökonomische Bedingungen geben muss, die das ermöglichen und gleichzeitig krisenfest sind, weil sich wirklich niemand wünschen kann, dass es bald einen künstlerischen Einschnitt in der Musik-, Theater-, Younameit-Szene gibt. Insofern erwarte ich von Entscheidungsträger:innen nicht viel mehr als unbürokratisch Zugänge zu Soforthilfen für freischaffende Künstler:innen sowie ein langfristiges Konzept, die Szene ökonomisch krisensicher zu machen bei gleichzeitigem Erhalt der künstlerischen Freiheit. Gleichzeitig erwarte ich aber auch, dass systemrelevante Jobs endlich (!) als solche Wertschätzung erfahren und sich diese Wertschätzung in einer deutlichen Lohnerhöhung niederschlägt, die nicht nur einmalig ob der Krise kommen, sondern langfristig.

Vielen Dank für deine Antworten und bleib gesund!

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Sebastian van Vugt singt mit unverwechselbarem Timbre über die Freuden und Leiden des Werdens und Seins. Seine Lieder und Stimme verfügen über ein hochaufgelöstes Gespür für Form und Dynamik. Seine Bühnenpräsenz ist so unprätentiös wie einnehmend. Beinahe aus Versehen wird ein eben noch aufgekratztes Mischpublikum aus Eingeladenen, Mitgebrachten und Kulturtouristen mausestill und der Raum füllt sich mit den unaufgeregten Songs van Vugts, die bei aller Wärme und Intimität nie dem Kitsch verfallen oder stereotyp verflachen. Sie lassen tief blicken und hören sich gut an. Im Oktober 2019 erschien das Album Hélène auf dem Label Viel Erfolg mit der Musik.