„Mittlerweile bin ich zum Normalzustand zurückgekehrt, und der bedeutet für mich bis mittags nicht ins Internet zu gehen.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht, wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen, die Wartezeit damit zu überbrücken, einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Im Mai 2019 war Deniz Ohde zu Gast bei IN GUTER NACHBARSCHAFT #21 in Weimar und las aus dem Manuskript ihres Romans Streulicht, der diesen Sommer bei Suhrkamp erscheint.

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Deniz Ohde (Foto: Martin Dost)

Liebe Deniz, wie geht’s dir derzeit?

Mir geht es gut! Ich habe den Vorteil, dass ich vor manchen der Probleme, vor denen viele Menschen angesichts der Situation gerade stehen, schon vorher stand. Also z.B., wie arbeitet es sich am besten im Home-Office, wie strukturiere ich dort meinen Tag, wie sehe ich zu, dass ich mich genug bewege – in vielerlei Hinsicht ist mir aufgegangen, dass mein Lebensstil an sich schon Quarantäne ist (lol), da entspreche ich vielleicht dem Klischee vom einsamen Schriftsteller. Und das sind natürlich totale Luxusprobleme, denn es ist ein großes Privileg seinen Lebensunterhalt durch Schreiben zu finanzieren und nirgendwo hin zu müssen; außerdem trage ich keine Verantwortung für Kinder oder Angehörige, für die ich jetzt zusätzlich zeitlich oder finanziell aufkommen müsste. Also ja, mir geht‘s gut und ich schätze mich glücklich!

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder bremst dich dieser Zustand eher aus?

Am Anfang hat mich die Situation etwas ausgebremst, weil ich mich zu sehr mit den Nachrichten und Live-Tickern beschäftigt habe und mir dabei Sorgen um die Gesundheit meiner Familie und mir gemacht habe. Aber mittlerweile bin ich fast zum Normalzustand zurückgekehrt, und der bedeutet für mich morgens bis mittags nicht ins Internet zu gehen.

Du warst im Mai vergangenen Jahres bei uns in Weimar zu Gast. Woran hast du in der Zwischenzeit gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

Kurz nachdem ich bei euch war, habe ich den Vertrag für meinen Debütroman unterschrieben. Dann begann für mich die Arbeit am Text, vor allem in den letzten Monaten war ich mit dem Lektorat beschäftigt. Parallel habe ich etwas an meiner zweiten Romanidee geschrieben, mir darüber Gedanken gemacht und recherchiert.

Herzlichen Glückwunsch! Wann wird der Roman erscheinen und worum geht’s darin?

Danke!! Der Roman heißt Streulicht, erscheint am 17.08. bei Suhrkamp, und es geht darin thematisch vor allem um das Bildungsversprechen von Chancengleichheit und real erlebte Ungleichheit. In den Worten meines Verlags:
„Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis nicht nur der Hausrat, sondern auch die verdrängten Erinnerungen hervorquollen. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, bis sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.“

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Welche Projekte sind bei dir derzeit zum erliegen gekommen?

Das Schreiben am nächsten Text geht nur sehr schleppend voran, das hat aber nichts mit der aktuellen Situation zu tun, sondern vielmehr damit, dass das gerade einfach die Phase der Arbeit ist. Die besteht vor allem aus Lesen, Nachdenken und die Sache sich innerlich formen lassen. Außerdem stecke ich gedanklich noch mitten im ersten Text und das auch planmäßig, die jetzige Zeit wäre auch so eher zurückgezogen gewesen. Ich hatte keine Lesungen oder ähnliches geplant, die jetzt ausgefallen wären. Auch das ist wieder ein Glücksfall, es hätte aber genauso gut nicht so kommen können, und deshalb fühle ich mit allen Kolleg*innen (darunter vor allem die Debütant*innen), die im Frühlingsprogramm ein Buch veröffentlicht haben und jetzt nicht damit raus können. – Wie sich da die Lage bis August entwickelt, darauf bin ich gespannt.

Was denkst du kann schlimmsten- oder bestenfalls passieren?

Bestenfalls sind die Buchläden wieder offen und z.B. Lesungen mit begrenzter Publikumsanzahl erlaubt. Dass sich allerdings bis dahin alles wieder normalisiert hat, dass eine Großveranstaltung wie die Frankfurter Buchmesse stattfindet, das halte ich eigentlich nicht für realistisch, und das finde ich natürlich schade. Trotzdem hoffe ich aber noch; auch dass das Buch, egal welches Szenario wir bis dahin haben, bei den Leuten ankommen wird, die es lesen wollen.

Welche Hilfen erhoffst du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

Ich wünsche mir, dass die Arbeitsausfälle, unter denen viele freischaffende Künstler*innen gerade zu leiden haben, getragen werden, und zwar ohne Kredit o.ä. Die letzte Zeit ist hat außerdem nochmal eindeutig gezeigt, dass ohne Kunst zu leben unmöglich ist; jede*r, der*die derzeit gezwungen ist zu Hause zu bleiben, ist darauf angewiesen, um nicht verrückt zu werden, deshalb wünsche ich mir vor allem längerfristig, dass die Erkenntnis hängen bleibt und nicht immer zu erst der Kulturbetrieb von Kürzungen betroffen ist – aber keine Ahnung, ob das eine realistische Hoffnung ist.
Ansonsten wünsche ich mir sowieso und immer Wohlstand für alle, vor allem für die Personen, auf deren Schultern auch schon vorher das ganze System gelastet hat und die trotzdem zu wenig Geld, Anerkennung und Freizeit bekommen: Pflegepersonal, Arbeitende im Supermarkt, Kraftfahrende, Bauarbeiter*innen, Fabrikarbeiter*innen, Putzkräfte, die Leute, die jetzt die vielen Online-Bestellungen abwickeln und ausfahren, etc. etc. smash capitalism now!

Liebe Deniz, vielen Dank für deine Antworten.

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Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie auch lebt. 2016 war sie Finalistin des 24. open mike und des 10. poet bewegt Literaturwettbewerbs, 2017 Stipendiatin des 21. Klagenfurter Literaturkurses. 2019 stand sie auf der Shortlist für den Wortmeldungen-Förderpreis. Im Sommer 2020 erscheint ihr Debutroman Streulicht im Suhrkamp Verlag.

„Die Männer reichen sich jetzt das Bier mit langen Stöcken über den Zaun.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht, wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen, die Wartezeit damit zu überbrücken, einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Im Sommer 2018 war Stefan Petermann zu Gast bei der 17. Ausgabe von IN GUTER NACHBARSCHAFT in Jena.

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Stefan Petermann (Foto: J. Rom)

Lieber Stefan, wie geht’s dir derzeit?

Ich fühle mich erschöpft und hellwach, besorgt und sicher, neugierig und apathisch, überfordert und unterfordert, ein Nebeneinander verschiedener Zustände, die sich zum Teil widersprechen. Das Verwirrende an der Situation ist deren Unsichtbarkeit. Die eigentliche Gefahr bleibt fern und wird erst durch Berichte, Fotos, Texte nahe herangeholt. Dagegen sind die Veränderungen der Abläufe und Routinen ganz real jederzeit da. Auch deshalb gibt es verschiedene Sorgen; Sorge um Familie und Freunde zuallererst. Sorge um die Pläne, verbunden auch mit wirtschaftlichen Fragen. Und, abstrakter, eben weil es dafür die fernen Augenzeugenberichte und erschütternden Protokolle aus den Ländern braucht, die medizinischen und menschlichen Tragödien, auch eine Sorge um die Welt, die Gesellschaft. Was so aufgeschrieben erst einmal wahnsinnig pathetisch klingt, aber sehr konkret wird, wenn ein Polizeiauto abstandkontrollierend im Park an mir vorbeifährt und ich mir sage: Ich finde das notwendig, ich finde das furchtbar.

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder bremst dich dieser Zustand eher aus?

Momentan lese ich mehr Peppa Wutz als Marcel Proust.

Woran hast du in den letzten Monaten gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

An etwas Längerem, das sich mit einer Ausnahmesituation beschäftigt. Ab Mitte März habe ich gemerkt, dass sich zwei Extreme zugleich nicht bewältigen lassen, weshalb ich vorerst nur noch sporadisch daran arbeite.

Welche Projekte sind bei dir derzeit zum Erliegen gekommen?

Das lange Schreiben, das apokalyptische, das hoffnungsferne Schreiben. Das ist momentan nicht möglich. Es gibt die Anfrage, sich für eine Anthologie eine Geschichte für Kinder über diese Zeit auszudenken. Das finde ich sehr hilfreich, weil es zwingt, Hoffnung in die Worte zu geben.
Für März & April waren mehrere Lesungen angesagt, auf die ich mich sehr gefreut hatte. Die sind nun weggefallen. Dazu ein künstlerisches Projekt, von dem nicht klar ist, wie es weitergeht.
Neben dem Wegfall hat sich auch Neues aufgetan. Im Februar habe ich begonnen, täglich einige Worte zur Situation zu notieren. Zuerst still, auch, weil ich nicht ertappt werden wollte bei einer Überreaktion. Was, wenn es doch vorbeigegangen wäre wie die Waldbrände in Australien; ein kurzer Aufreger, bevor bald jeder von … gesprochen hätte?
So ab Mitte März habe ich das Geschriebene öffentlich ausgestellt. Mir ist bewusst, dass es viele solcher Auseinandersetzungen gibt; Tagebücher, Kolumnen, Podcasts, lustige TikToks. Jedes einzelne davon ist notwendig und sei es nur für diejenige, die es verfasst. So auch bei mir. Ich habe gemerkt, dass mir diese Stunde am Abend beim Ordnen der Eindrücke von innen und außen hilft. Das Schreiben schafft ein Gefühl von Kontrolle, lässt mich glauben, dass das, was geschieht, sich in ein Datum tippen ließe, fein säuberlich durch Tage getrennt. Es ist ein Sammeln von Gedanken, auch ein neugieriges Beiwohnen beim Verändern einer Realität, ein Auflisten von Fundstücken, ein Zuschauen dabei, wie sich die Ausnahme verfestigt.
Und, noch eine Sache: Für einen Fernsehsender sollten kurze Dokumentationen entstehen, die zeigen, wie die Pandemie das Leben hier verändert. Zusammen mit meinen Kollegen bin ich in ein sehr kleines Dorf gefahren, das wir vom letzten Buchprojekt kennen. Das Dorf liegt so ein bisschen jenseits der Welt, nur ein Weg führt ins Tal hinein. Die Fahrt dahin war schon leicht surreal, vor Jena liefen Rehe auf die leere Autobahn. Im Dorf ging es darum, festzuhalten, was dort jetzt anders ist. Eigentlich nicht viel, wie die Menschen fast ein wenig entschuldigend sagten. Die Männer reichen sich jetzt das Bier mit langen Stöcken über den Zaun. Und der Spielplatz ist abgesperrt. Ansonsten geht das meiste seinen Gang; Gartenarbeit, Hausbau, Holz aus dem Forst holen, die Osterlämmer auf die Wiese bringen. Das war fast schon idyllisch, die zwei Drehtage dort haben sehr gutgetan.

Welche Hilfen erhoffst du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

In Thüringen gibt es eine unbürokratische Hilfe; zwei Seiten, wenige Angaben genügen schon. Das ist eine gute Sache. Der Antrag befindet sich momentan – Zitat Infomail – »zur weiteren Prüfung« und ich hoffe, dass dieser und die Anträge anderer nicht auf halbem Weg verloren gehen, weil die Hilfe erst einmal einen kleinen Teil der allgemeinen Unsicherheit nehmen würde.
Wenn man Musik, Literatur, Kunst macht, versucht man sich momentan möglicherweise mehr oder minder verzweifelt eine Systemrelevanz einzureden. Und dann kommt man zur Supermarktverkäuferin, die sich zwanzig Mal am Tag anbrüllen lassen muss, weil sie nur eine Packung Toilettenpapier pro Kunde verkaufen darf oder hört von der Cousine, dass sie als Ärztin Ostern komplett durcharbeiten muss und im Übrigen die Desinfektionsmittel von der Station geklaut werden und muss dann das eigene Wort oder die eigene Melodie dagegensetzen. Das sind lapidare eigene Probleme und zugleich riesengroße, weil sie auch nach der Sinnhaftigkeit dessen, was man tut und kann, fragt.
Zudem ist das eine Situation, deren Schwierigkeit – neben vielem anderen – auch in ihrer unbekannten Länge besteht. Es ist nicht möglich, Veranstaltungen zu planen, sowohl als Autor wie auch als literarischer Verein. Sollen Lesungen für Mai, für Juni abgesagt werden? Alle Lesungen bis Spätsommer? Und wenn alles auf den Herbst verschoben wird, gibt es dann ein Überangebot an Veranstaltungen? Braucht es sogar dieses Überangebot, um den vermuteten Hunger auf Livesachen zu stillen? Oder soll man erst für 2021 planen, wie Virologen empfehlen, für Sommer 2021? Auch wenn sich Lesungen nachholen lassen, verschieben sich so die dann sonst möglichen Veranstaltungen. Man landet immer wieder dabei: Was jetzt verloren geht, geht für immer verloren.

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Stefan Petermann, geboren 1978 in Werdau, schreibt Romane und Erzählungen. Er studierte an der Bauhaus-Universität Weimar. 2009 erschien sein Debütroman Der Schlaf und das Flüstern. Er erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen. Seine Erzählungen nebenan, Die Angst des Wolfs vor dem Wolf und Der Zitronenfalter soll sein Maul halten wurden verfilmt. Er war Stadtschreiber im oberösterreichischen Wels und lebt in Weimar. Zuletzt erschien von ihm der Reportagenband Jenseits der Perlenkette (gemeinsam mit Yvonne Andrä).

http://stefanpetermann.de/

ALTERNATIVEN ZUR KAPITULATION

„Ich kann aktuell schlecht in größeren zeitlichen Dimensionen denken.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht, wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen, die Wartezeit damit zu überbrücken, einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Im vergangenen Frühjahr war Isabelle Lehn mit ihrem Roman Frühlingserwachen zu Gast in Erfurt bei IN GUTER NACHBARSCHAFT #20.

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Isabelle Lehn (Foto: Amrei-Marie)

Liebe Isabelle, wie geht’s dir derzeit?

Ganz okay. Eigentlich fehlt es mir gerade an nichts, ich bin beschäftigt und es gelingt mir ganz gut, im Moment zu leben. Aber manchmal macht mir schon Angst, wie massiv die Einschnitte ins öffentliche Leben sind, die wir gerade erleben. Die Polizeipräsenz auf den Straßen, die kreisenden Hubschrauber über den Dächern, die weltweiten Konsequenzen, die wir noch gar nicht abschätzen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in ein paar Wochen einfach zur Tagesordnung zurückkehren werden. So eine Krise ist natürlich auch eine Chance: Aussortieren, was sich als überflüssig erwiesen hat, überdenken, was verbessert werden könnte, und sich darüber klar werden, was man keinesfalls aufgeben will. Aber ich mochte mein Leben, so wie es war, und ich frage mich, was nach Corona noch davon übrig sein wird: Wie werden sich unsere Gewohnheiten verändern, das Bild der Stadt, in der ich lebe, der Kulturbetrieb, in dem ich mein Geld verdiene, aber auch größere politische und volkswirtschaftliche Zusammenhänge? Was mich in solchen Momenten beruhigt, ist meistens das Lesen. Bei manchen Büchern spürt man einfach, dass Literatur ein unangreifbarer, übergeordneter Wert ist und von einer Gültigkeit, die nicht einfach verschwinden wird.

Welche Bücher sind das? Diese, die schon immer ein persönliches Trostpotential für dich hatten? Oder eher Bücher, die sich auf die aktuelle Situation bezogen neu entdecken lassen? Albert Camus‘ Die Pest ist ja z.B. das derzeit wohl meistgefragte Buch in Europa.

Stimmt, ja, die thematischen Bezüge: Ich habe auch ins Decamerone hereingelesen, wie sicherlich viele gerade. Aber hilfreich fand ich vor allem Bücher, die ohnehin auf meinem Lesestapel lagen. Sehr berührt und beeindruckt hat mich Aras Örens Berliner Trilogie, drei Langgedichte, die von der Situation der ersten türkischen Gastarbeitergeneration in Kreuzberg erzählen, und zwar mit so großer ästhetischer und poetischer Kraft, dass sie mich rund 40 Jahre nach ihrem Entstehen total erwischt haben. Ich fand tröstlich, wie stark und zeitlos Literatur sein kann. Außerdem habe ich Annie Ernaux‘ Die Jahre zu Ende gelesen. Das Buch, das über Jahrzehnte hinweg aus ihrem Leben erzählt, enthält so viel historischen Wandel und Weltgeschehen, dass es mir ein „da Draußen“ ersetzt und gegen den Eindruck von Stillstand geholfen hat. Und schließlich eines meiner Lieblingsbücher, das ich tatsächlich immer wieder lesen kann, um die Verhältnismäßigkeit der Dinge zurechtzurücken: Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur, das alle großen Themen verhandelt und sowieso das traurigste und tröstlichste Buch der Welt ist.

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder bremst dich dieser Zustand eher aus?

Beides. Einerseits bin ich dankbar, genug Aufgaben zu haben, die mich ausfüllen: Ich bereite ein Seminar zum Thema „Wut in literarischen Texten“ vor, das ich als Gastdozentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig halte – nun allerdings etwas anders als geplant, nämlich per Videokonferenz. Andere Lehraufträge oder Lesungstermine fallen weg, aber ich mache per Mail und Telefon Textarbeit mit Autorinnen, die sich ein Feedback zu ihren Romanmanuskripten wünschen, und beteilige mich an Online-Literaturfestivals. Es gibt also genug zu tun. Schreiben kann ich allerdings gerade nur kürzere Texte, die nicht weit über den Moment hinausweisen. Zum Beispiel eine wöchentliche Kolumne für die Sendung Unter Büchern bei MDR-Kultur unter dem Titel Weiter im Text – Notizen aus dem Elfenbeinturm. An meinem aktuellen Romanprojekt zu arbeiten, gelingt mir gerade nur mit Mühe. Ich kann aktuell schlecht in größeren zeitlichen Dimensionen denken, zumal sich alle Wertigkeiten zu verschieben und relativieren scheinen. Das empfinde ich tatsächlich als lähmend.

Diesbezüglich geistern mir seit Tagen folgende Gedanken durch den Kopf. Zum einen denkt man sich, dass diese Situation gerade ideal zum Schreiben ist, da sich ringsum alles entschleunigt hat. Aber dem steht so ein gewisser, wenn auch nur unterschwelliger Erwartungsdruck gegenüber, aus dieser Situation heraus, deren Besonderheit uns allen bewusst ist, etwas zu schaffen. Zum anderen wundere ich mich über die vielen Corona-Tagebücher von Schriftsteller:innen, da ich mich frage, was diese denn nun mitzuteilen haben, was wir anderen nicht auch auf die eine oder andere Weise erfahren und erleben. Dann wiederum weiß ich aber, dass ja jeder von uns diese Situation individuell durchlebt – in diesem paradoxen Zustand der kollektiven Vereinzelung. Ich bin da hin und her gerissen.

„Bitte schreibt jetzt nicht alle den großen Corona-Roman!“, habe ich kürzlich sinngemäß auf der Facebook-Seite eines Literaturkritikers gelesen. Ich bin da auch hin- und hergerissen. Einerseits will ich die ganzen Quarantäne-Tagebücher jetzt schon nicht lesen, da ich das Gefühl habe, sie würden mein eigenes Erleben (dem ich viel lieber entfliehen würde) nur potenzieren. Tatsächlich sind wir ja alle gerade in den Elfenbeinturm eingesperrt, von dem die Literaturkritik traditionell verlangt, wir sollten ihn verlassen, um welthaltige und erfahrungsgesättigte Literatur zu schreiben. Prinzipiell denke ich aber auch, dass das, was Literatur einzigartig macht, der Einfluss der individuellen Wahrnehmung, der Sprache und der Gedankenwelt ist – selbst wenn sich die Geschichten und unsere Erfahrungen ähneln mögen. Dass ich die Situation trotzdem als lähmend empfinde, liegt aber auch daran, dass ich gerade kaum weiter als bis zur nächsten Wand oder über den nächsten Tag hinaus denken kann. Zumal sich alle Wertigkeiten zu verschieben scheinen. Ein Roman braucht aber vermutlich doch ein gewisses Maß an Planungssicherheit und die Möglichkeit, in größeren zeitlichen Dimensionen zu denken.

Du warst vor ziemlich genau einem Jahr bei uns in Erfurt zu Gast. Woran hast du in den letzten Monaten gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

Ich war nach meinem Besuch in Erfurt noch sehr viel unterwegs – sowohl zu weiteren Lesungen mit meinem aktuellen Roman Frühlingserwachen, als auch zu Presseterminen oder Stipendienaufenthalten. Gearbeitet habe ich hauptsächlich an Auftragstexten für Literaturhäuser oder -Festivals. Außerdem habe ich in Leipzig eine monatliche Literaturveranstaltung organisiert und moderiert. Das letzte Jahr hatte ich mir also ganz bewusst reserviert, um alle möglichen Termine wahrzunehmen. Zum Glück, kann ich heute sagen. Zum Jahreswechsel sollte dann eine ruhigere Zeit an meinem Leipziger Schreibtisch und die Arbeit am neuen Romanprojekt folgen. Darauf habe ich mich sehr gefreut. Nun ist alles etwas anders gekommen als erwartet. Zum Beispiel hatte ich ab März eine intensive Recherchephase geplant, die ich wegen des Kontaktverbots und der Schließung aller Bibliotheken erst einmal auf Eis gelegt habe.

Welche Projekte sind bei dir derzeit zum Erliegen gekommen?

Eigentlich habe ich noch Glück, da ich nicht zu den Autorinnen zähle, die in diesem Frühjahr einen neuen Titel veröffentlicht haben. Trotzdem sind natürlich einige Lesungen ausgefallen sowie Workshops, in denen ich unterrichtet hätte, und Moderationen im Rahmen der Buchmesse. Ein paar Festivals, die im Sommer stattfinden sollen, überlegen noch nach möglichen Alternativen, um den beteiligten Künstlern nicht absagen zu müssen. Aber manchmal geht es eben nicht anders. Am meisten tut es mir leid um eine Reise nach Teheran auf Einladung des Goethe-Instituts: Ursprünglich sollte ich bereits im Januar im Iran aus Frühlingserwachen lesen, was wir wegen der politisch angespannten Lage und dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine verschieben mussten. Unser Ausweichtermin war Ostern – was nun ebenfalls hinfällig ist. Aber ich hoffe sehr, dass die Reise irgendwann wieder möglich sein wird.

Welche Hilfen erhoffst du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

Ich finde es toll, wie viel Energie manche Veranstalter aufwenden, um Ausfallhonorare zu bezahlen oder alternative Veranstaltungsformate zu entwickeln. Generell erlebe ich gerade einen großen Zusammenhalt und viel Verständnis für die Situation von freischaffenden Autorinnen – auch von Seiten meines Verlages und meiner Lektorin. Hilfreich wäre es sicherlich, wenn öffentliche Fördergelder auch bei Veranstaltungsausfall nicht zurückgezahlt werden müssten – das würde zumindest erste Verluste auf Veranstalter- und Autorenseite abfedern, zumal diese Gelder oft durch langwierige Antragstellung erworben wurden. Die Soforthilfe ist natürlich auch hilfreich, solange sie nicht als Darlehen zur Verfügung gestellt wird. Denn was jetzt an Verdienst ausfällt, kommt ja hinterher nicht automatisch obendrauf. Wie sich die Situation langfristig verändern wird und welche Hilfen dann erforderlich sind – das müssen wir sicherlich noch abwarten.

Liebe Isabelle, vielen Dank für deine Antworten.

Die Fragen stellte Mario Osterland.

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Isabelle Lehn, geb. 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und führt auf den ersten Blick ein erfolgreiches Leben: promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans Binde zwei Vögel zusammen, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zuletzt erschien von ihr der Roman Frühlingserwachen, in dem sie über eine Frau namens Isabelle Lehn schreibt. Alles andere ist Auslegungssache.

hr2-Literaturpreis 2017 für Joshua Schößler

Joshua Schößler, der bereits mehrfach zu Gast am offenen Mikrofon unsere Lesereihe war, erhält für seine Kurzgeschichte Betrug den hr2-Literaturpreis 2017. Der Jenaer Autor gewann die Online-Abstimmung um den Preis, für den neun weitere Nachwuchsautor*innen aus Hessen und Thüringen nominiert waren.

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Joshua Schößler

In seinem Text erzählt Schößler die Geschichte eines orientierungslosen Kiffers, der zwischen Wahrheit und Lüge durch die in der Freistadt Christiania taumelt. Betrug kann auf der Website zum Wettbewerb nachgehört werden. Ebenso wie die Texte der anderen nominierten Autor*innen, darunter auch Russischer Tango von Lennardt Loß, Gastautor bei der In guter Nachbarschaft SUMMER EDITION im letzten Jahr.

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Lennardt Loß bei seiner Lesung zur Summer Edition im Juli 2016(Foto: Julia Hauck)

Der hr2-Literaturpreis ist ein Publikumspreis, der jährlich vergeben wird. Die Liste der Nominierten ergibt sich aus den Hauptpreisgewinner*innen des ebenfalls jährlich stattfindenden Literaturwettbewerbes des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen.

Wir freuen uns mit Lennardt Loß und Joshua Schößler und gratulieren herzlich zu diesen Erfolgen!

Joshua Schößler bloggt auf skklnt.

Robert Sorg – „Feldrandzeichen“

Dieb

 

Als ich nach Hause kam,

war nicht verändert.

Nur fand ich einen Zettel

in der Diele,

am Rand des Spiegels

eingeklemmt,

unbeschrieben,

der war von dir,

Dieb.

 

Minimalistisch, beobachtend, zeichenhaft sind die Texte des Jenaer Kunsthistorikers, Kulturmanagers und Bibliothekars Robert Sorg, der in diesem Jahr mit Feldrandzeichen sein literarisches Debut veröffentlichte. Als Teil der Publikationsreihe „Jahresgabe“ der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. erscheint es im schmalen Heftformat von 20 Seiten. Ein Format, dass Sorgs verdichteten Texten zwischen Lyrik und kurzer Prosa sehr gut steht. Feldrandzeichen ist kein Zyklus, sondern ein Kondensat mehrjähriger Schreibarbeit. Darin lotet Sorg vor allem zwischenmenschliche Krisensituationen und Sehnsüchte aus, versucht bisweilen die Welt als Bild zu lesen und das Subjekt darin zu verorten. Mit Franz Kafka klingt in diesen Texten ein berühmtes Vorbild literarischer Suchbewegungen an. Sorg nimmt nicht nur dessen Stimmung auf, sondern vertraut auch auf eine klar gehaltene Sprache, die nur selten ausbricht, sich nicht verschnörkelt, allenfalls mäandert, wo es die sinnliche Anschauung verlangt.

Fenster

Zum Beispiel: Am Ende der Nacht aufwachen. Fensterblick: Eine Winterlandschaft. Über die Schneedecke zieht sich das Liniengeäst nackter Bäume. Dazwischen Passanten, in Mäntel gehüllt, mit eilendem Schritt, zufällige Pfade ins Weiß tretend. Innen der Wunsch, Indianer zu werden. Die Prärie sehen, oder vorerst: Krokusblüten.

Sie liegt im Bett. Wie war das alles nochmal? Gedankennotiz: Eisblumen als Ornament am Fensterkreuz. Ich folge ihren Ursprüngen. Der Blick gleitet kursorisch über den Körper. Atem zeichnet sich ab. Der Bauchnabel hebt und senkt sich, wölbt sich, reißt auf. Pfauenaugen, Admirale, Bläulinge – Lepidoptera; ihre Flügel entfalten sich zwischen dem Blut, retten sich an das kalte Fensterglas, vereisen, verhaften. Statements: Das Herz: ein einsamer Jäger, ein geräumiger Friedhof, am Ende des Herzens rudert die Bombe. Die Flügel der Falter schlagen ans Fenster. Mein Blick streift das Geäst der Bäume, sucht nach Konturen im Schnee. Im Mund der Geschmack ihrer Lippen. Der Duft ihres Schweißes. Das Dröhnen der Flügelschläge –

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Robert Sorg: Feldrandzeichen. Literarische Gesellschaft Thüringen e.V.: Weimar, 2017. 20 Seiten. 4,50€ – ISBN 978-3-936305-40-1 (Hier bestellen.)

„Was passiert, wenn man in einen Vulkan springt“ von Gorch Maltzen

Bereits Ende September hatten wir den Weimarer Autor Gorch Maltzen im Interview vorgestellt. Anfang November war er in Erfurt zu Gast am offenen Mikrofon bei IN GUTER NACHBARSCHAFT #11. Hier könnt ihr nun seinen Text „Was passiert, wenn man in einen Vulkan springt“ nachlesen.

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Gorch Maltzen am offenen Mikrofon bei IGN #11 in Erfurt. (Foto: Julia Hauck)

„Ich glaube, man bleibt auf der Lava liegen wegen der Oberflächenspannung, so wie ein Wasserläufer auf einem Teich. Ich denke nicht, dass man einfach hinein fällt und verschwindet, verdampft. Man verschmort eher langsam.“, sagte Simon.

Joshua, sein Freund, gerade erst vierzehn, sechs Monate jünger, deshalb kleiner, aber auch körperlich kleiner, Simon war fast eineinhalb Köpfe größer, Joshua hoffte noch auf einen Wachstumsschub, glaubte ihm sofort, glaubte ohnehin jede These, die Simon aufstellte ohne Beweis, mit offenem Mund. Und Simon wusste noch mehr: „Es gibt einen Vulkan in Japan, da begehen jedes Jahr fünfhundert Leute Selbstmord. Das sind fast zwei am Tag.“ So groß Simons Faktenwissen war, so emotionslos war sein Ton.

Die beiden Jungen standen im Arbeitszimmer von Simons Vater, umgeben von Andenken aus dem Himalaya, Lebloses wie Steine oder Bedeutungsloses wie Utensilien für ausgestorbene Riten. Alles Dinge, die einem Besucher das Gefühl gaben noch nichts von der Welt gesehen zu haben. Alles Dinge, die seinen Vater Vorträge halten ließen, wenn man so dumm war und fragte. Alles Dinge, die Simons Mutter nach der Scheidung nicht für sich beanspruchen wird. Wie die vulkanologischen Karten, die er ihr bei ihrem ersten Date gezeigt hatte. Sie sagte nur: „Du beschäftigst dich also mit der Form der Hölle.“ Sie mochte Poesie. Er wollte sie korrigieren, erinnerte sich aber, dass er nicht im Hörsaal war. Sie ein Gast, ein Mädchen, nicht so sehr seine Studentin in diesem Moment. Später einmal nannte sie ihn ihren Mephisto, er sie sein Licht, dann nichts mehr und dann für eine ganze Zeit Schlampe und schließlich Ex. Simons Mutter war schon Nichts, als die Jungen sich den Nachmittag vertrieben mit ihrem Spiel. Das Spiel bestand darin, einen vom anderen gewählten Schmerz auszuhalten. Simons Hand war rot, weil er sie auf die Herdplatte gedrückt hatte. Joshua hatte gejohlt. Simon würde sich später einmal an diesen Nachmittag erinnern und sich rechtfertigen, wie langweilig ihnen war, wie pubertär sie waren mit den Hormonen und allem, wie notgedrungen sie nach etwas suchten, das sie wirklich fühlten, so überwältigend und ganz. Es umgab sie ein Altherrenmuff, dessen würziges Aroma ihnen irritierend angenehm war, etwas ankündigte, das sie noch nicht benennen konnten. Simon bewunderte seinen Vater und Joshua bewunderte Simon. Nadeln zur Markierung von Gesteinsschichten waren die nächste Mutprobe, würden später dann eine nach der anderen unter Joshuas Haut stecken.

Am selben Nachmittag beschloss, nachdem er durch die Bordelle Tokios gezogen war ohne eine Antwort zu finden, der rechtmäßige Erbe eines Hotelimperiums, gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, zu sterben. Er war nach Japan gereist, um sich spirituell zu reinigen, um Cassandra zu vergessen, diese eine wahre perfekte Zehn. Blonde Haare, große Brüste. Er konnte sie nicht kaufen. Er konnte nicht aufhören an sie zu denken. Mit ihr zu schlafen war, wie den ersten Zeh in ein warmes Bad tauchen. Zuerst suchte er noch nach einer Medizin – es gibt so etwas in Japan: eine Wunderheilung. Aber nichts half. Auch nicht der Versuch sich mit Prostituierten zu betäuben. Er hatte von diesem Vulkan gehört – beinahe fünfhundert Menschen pro Jahr sprangen hinein – und begab sich auf den Weg zum Gipfel. Als die Steigung zunahm fiel ihm auf, wie viel er geraucht hatte in letzter Zeit. Der Weg war gesäumt von kleinen Schildern, auf denen stand „Was möchtest du heute Abend essen?“ oder „Morgen wird bestimmt ein schöner Tag.“ Die Bergwacht hatte sie aufgestellt, um Gefährdete auf andere Gedanken zu bringen. Diskutiert wurde zudem die Sperrung des Gipfels.

Nachdem Simons Vater aus der Wüste Gobi zurückgekehrt war, wo er die voranschreitende Desertifikation untersucht hatte – diese sich unaufhaltsam ausbreitende Leere in der Welt – war Simons Mutter schon zu ihrem Freund gezogen. Sein Vater würde nie wieder so richtig zurückkehren. Man hörte manchmal ein Wimmern aus dem Arbeitszimmer. Selten ein Duschen oder Kochen. Manchmal ein Kotzen. Nachdem das Feuerzeug kaputt war, zündete sein Vater jede Kippe mit der letzten an, wollte sehen wie lange er das schafft. Verwahrlosung erfordert auch Kondition.

Joshua wippte vor und zurück auf der genieteten Sitzauflage aus Leder des Arbeitsstuhls. Es steckten bereits drei Nadeln unter der Haut seines rechten Handrückens. Das gleichförmige Vor und Zurück erinnerte Simon, ob er wollte oder nicht, an das unangenehme Ausbleiben der rhythmischen Geräusche seiner Eltern des Nachts. Diesen Geräuschen, die auf Urlaubsreisen gehäuft, immer einem guten Omen entsprachen, etwas das seine Eltern hielt und dämpfte, ermutigte und tröstete. Im Skiurlaub in den Alpen schien ihm einmal sogar, dass eben dieses Wippen in einer sternklaren Nacht eine Schneelawine ausgelöst hatte – sein Fehlen eine ganz eigene Art Katastrophe. Die fürchterliche Hellhörigkeit hatte sich gewandelt in unerträgliche Stille. Seine Eltern in zwei Fremde.

Reflexartig griff Simon Joshuas Hand, um das Wippen zu stoppen. Simons Handfläche war von kleinen Brandblasen übersät. Einen Moment schien ihm, er könnte Joshua bitten, ihre Hände zusammenzunähen. Er hätte es getan, er hätte alles getan für ihn. Simon drückte mit seiner brennenden Hand die Nadeln noch tiefer in Joshuas Hand. Sie spürten sich.

Den beiden Jungen sollte an diesem Nachmittag noch das Fläschchen mit Salzsäure zum Nachweis von Kalk bevorstehen. Simon wird einmal das Ätzmahl an seiner Hand ansehen und denken, wie jung und naiv sie doch waren, wie sie nichts anderes mit ihren Körpern anzufangen wussten.

Joshua Schößler – In den Pyrenäen

Die enge Wendeltreppe hinauf, geblendet von dem schräg durch die verstaubten Einfachverglasungen fallenden Sonnenlicht. Erster Stock. Die Stufen knarzten unter den bedächtigen Schritten, die grün gestrichene Decke glitt dicht über ihren Scheitel vorbei. Zweiter Stock, Laura versuchte ihren Atem zu beruhigen und fragte sich, ob das Herzklopfen allein von der Anstrengung des Treppensteigens käme. Es ist noch nicht lange her, dass sie das letzte mal hier war, vielleicht eine Woche. Da war sie mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit diese sich in ihr eigenes Innere drehende Treppe hinaufgestiegen. Hatte sie da auch schon so schwer geatmet? Dritter oder vierter Stock? Ihre Handflächen rutschten über das unebene Holz des Treppengeländers. Das war die Tür, Laura trat auf die Schwelle und klingelte, sie wippte absichtlich auf den Fußballen und murmelte ein wenig, um nicht den Anschein der Heimlichkeit zu erwecken. Einen Augenblick später hörte sie, wie die Türkette zurückgeschlagen wurde.

Etwas früher. Es sei besser, wenn sie es beendeten. Er könne das nicht mehr, seine Kräfte seien erschöpft. Ein kurzer Vortrag darüber, wie er sich die letzten Monate gefühlt habe. Dass sie Zeit brauche, um wieder zu sich zu finden, sie hätte sich verloren, sie könne so nicht weitermachen. Die Situation verlor sich irgendwann und der Bonsai ließ sich von Laura ein paar Blätter zupfen. Sie nahm ein paar fast vergessene Briefumschläge vom Schreibtisch, die sich von ihr öffnen ließen. Kleine schwarze Zahlen, kaum zu entziffern, tief aus den Eingeweiden eines anonymen Apparats. Mehrere Bögen roter Zahlen. Werbung. Eine große Tageszeitung, die sie nicht abboniert hatte. Mahnungen. Wer stopfte ihr eigentlich die ganze Papiermasse in den Briefschlitz? Eine Postkarte von einer Insel, die sie nicht kannte. Sie stellte sich vor, wie sie den Sand in ihrer Faust zerdrückte, wie sie die ganze Insel zerdrückte und tief im Meeresboden vergrub. Sie drehte die Postkarte um, Werbung für ein Reisebüro. Sie nahm ihr Handy und schickte ihm ein paar SMS, legte es wieder weg und rauchte. Ein weiterer Brief entfaltete sich vor ihren Augen, sollte der Strom abgestellt werden? Oder das Internet? War das nicht das selbe? War das ein böser Streich, den man ihr spielte? Noch eine SMS und zwei Anrufe. Wo sollte sie anfangen? Unvorstellbar, sie sei nicht liebenswürdig. Das war doch alles gar nicht ihre Schuld. Seine aber auch nicht, er meinte ja, dass es hier gar nicht um Schuld gehe, dass sich die Dinge so entwickelt hätten, dass man es nicht habe kommen sehen. In der ganzen Sache musste es ein Muster geben, eine verborgene Struktur. Eine Einladung zum freikirchlichen Gottesdienst kommenden Sonntag. Ein handgeschriebener Zettel von der Vermieterin, der Schornsteinfeger sei letzte Woche in ihrer Wohnung gewesen, habe irgendwas abgelesen. Hat sie ihm die Tür geöffnet? Die Vermietung hatte sich nicht mehr gemeldet, also musste sie ihn reingelassen haben. Hitze kam in ihr auf, sie spürte, wie sie zu fiebern begann. Sie warf einen Blick über ihre Schulter um die Uhrzeit an der Mikrowelle abzulesen, aber die Mikrowelle war schon seit einem Monat nicht mehr da. So ganz konnte sie sich nicht daran gewöhnen. Sie kam ohne Mikrowelle besser zurecht, als sie es sich zugetraut hatte, aber sie versuchte immer noch, die Uhr an ihr abzulesen. In der Erde ihres Bonsais beobachtete sie ein paar Fliegenlarven. Die einzige Pflanze, die sie düngte. Sie konnte sich nicht erklären, wo die Tiere immer herkamen, aber der Zusammenhang musste von dem Dünger aus seinen Anfang nehmen, musste auch etwas mit den Rechnungen und Erik zu tun haben. Sie nahm sich Zettel und Stift und versuchte, die Kausalitäten abzubilden, an die Gedanken zu binden und die Gedanken wieder mit äußeren Umständen zu verknüpften und geriet schließlich in ein furchtbares Durcheinander. Sie tippte hektisch noch ein paar SMS. Auf dem Nachttisch lag noch das Buch, das Erik hier hatte liegen lassen. Es war Schuld und Sühne, es musste das dutzendste Mal sein, dass er diesen klebrigen Wälzer las.

Die Kette wurde aus der Schiene gezogen und klapperte gegen den Rahmen. Die Tür öffnete sich, erst einen kleinen Spalt, dann schwungvoll weiter. „Hey, wie geht es dir? Ich habe dich schon hundert mal angerufen, du bist nie rangegangen.“ In diesem Moment kamen ihr ihre Pläne vollkommen irrsinnig vor und sie warf sie mit einem Mal über Bord.

Naja, ich war beschäftigt. Ich wollte dir auch nicht zu viel von deiner Zeit stehlen und dir auch eigentlich nur dein Buch vorbeibringen, dass du bei mir vergessen hast.“

Das hatte ich ja ganz vergessen. Willst du vielleicht noch mal kurz reinkommen?“

Ehrlich gesagt wollte ich dir nur dein Buch zurückgeben.. Ich habe noch eine Verabredung.“ Sie fügte das mit Absicht hinzu, aber diese scheinbar beiläufige Bemerkung schien bei Erik keine Wirkung zu haben. Zum Abschied umarmten sie sich. Auf dem Heimweg dachte sie nach. Die drückende Hitze machte ihr zu schaffen. Im Grunde genommen ist es doch gut gelaufen. Viel besser, als was sie sich vorgenommen hatte. Zuhause angekommen war sie sich sicher, das Ganze einfach abschließen zu können, wie man so sagt, drüber hinwegkommen und die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein lassen. So eine Sache war es gar nicht wert, dass man sich länger damit aufhielt. Sie könnte jetzt alles irgendwie anders machen, nochmal neu starten, da war ein Plan, ihr Plan, der sich in das Kausalitätennetz fügte.

Aber in dem selben Moment, wo der Fahrstuhl wieder zurückkehrte, kamen ihr ihre eigenen Gedanken wieder sehr einfältig vor. Sie begann wieder den Überblick zu verlieren, die geheime Struktur, ihre Gedanken verworren sich wieder und die Fahrstuhltür öffnete sich. Sie musste über sich selbst lachen. So hatte sich die Geschichte nicht zugetragen.

Die Kette wurde aus der Schiene gezogen und klapperte gegen den Rahmen. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt und seine Augen fixierten mit stechendem Argwohn aus dem Dunkel. Ahnte er etwas? In dem Moment verlor Laura den Kopf und machte einen großen Fehler. Da sie befürchtete, Erik würde erschrecken, packte sie die Türklinke und schob die Tür etwas weiter auf, damit er nicht auf den Gedanken käme, die Tür einfach wieder zuzuknallen. Als er das merkte, versuchte er es zwar nicht, ließ die Klinke aber doch nicht los, so daß sie ihn mit der Tür beinahe ins Treppenhaus gedrückt hätte. Als sie sah, dass er hinter der Tür stehenblieb, sie nicht durchlassen wollte, ging sie direkt auf ihn zu. Er wich erschrocken zurück, wollte etwas sagen, schien es aber nicht zu können und starrte sie nur unverwandt an.

Hallo Erik“, begann sie möglichst ungezwungen, aber ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen, versagte und zitterte. „Ich bringe dir… das Buch…. Aber lass uns lieber hineingehen… ans Licht…“ Sie ließ ihn stehen und trat unaufgefordert in den Flur. Er eilte ihr nach, er hatte die Sprache wiedergefunden.

Oh Gott! Was willst du?“

Aber ich bitte dich, du hast noch das Buch bei mir vergessen, dass du so gerne hast.“ Und sie hielt ihm das Päckchen hin. Er blickte es kurz an, richtete aber sofort die Augen in die der unerwarteten Besucherin. Er war aufmerksam, gereizt und argwöhnisch. Es verging etwa eine Minute. Sie glaubte sogar in seinen Augen etwas wie Spott zu lesen, als hätte er bereits alles durchschaut. Sie fühlte, dass sie im Begriff war, die Fassung zu verlieren, dass in ihr Angst aufstieg, eine solche Angst, dass sie, hätte er ihn noch eine halbe Minute länger angesehen, vielleicht davongelaufen wäre.

Warum siehst du mich denn so an, als ob du nicht wüsstest, wer ich bin?“, sagte sie plötzlich ebenso böse. „Wenn du willst, dann nimm das Buch, wenn nicht – gehe ich woanders hin. Ich habe keine Zeit.“

Sie hatte nicht vorgehabt, so zu reden. Die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen. Erik hatte sich inzwischen gefasst, der entschiedene Ton seines Besuchs hatte ihn offenbar beruhigt. Er streckte die Hand aus und nahm das Buch. „Ja. Danke. Und warum bist du so bleich? Da, deine Hände zittern ja.“

Ich habe Fieber“, fügte sie mit letzter Anstrengung hinzu. Aber ihre Antwort klang überzeugend, er nahm das Päckchen.

Aber warum hast du es so fest eingepackt?“

Während er versuchte, den Bindfaden aufzuknüpfen, und sich dem Fenster, dem Licht zuwandte, ließ er sie einige Sekunden aus den Augen und kehrte ihr den Rücken zu. Sie knüpfte die Jacke auf und löste den Hammer aus der Schlinge, die sie an die Innenseite genäht hatte, holte ihn aber nicht hervor, sondern hielt ihn mit der rechten Hand unter der Jacke fest. Ihre Arme waren furchtbar kraftlos, sie spürte, wie sie mit jedem Augenblick mehr erlahmten und erstarrten. Sie fürchtete, dass sie den Hammer nicht würde länger halten können und ihn fallen lassen müsste. Plötzlich glaubte sie zu taumeln.

Aber wie du das verschnürt hast!“, rief er ärgerlich und machte eine Bewegung, als wollte er sich ihr wieder zuwenden.

Kein Augenblick war mehr zu verlieren. Sie zog den Hammer hervor, holte mit beiden Armen aus und ließ ihn, beinahe ohnmächtig auf seinen Kopf fallen. Sie hatte geglaubt, sie wäre kraftlos, aber kaum hatte sie den Hammer ein weiteres mal fallen lassen, da fühlte sie ihre Kraft wieder wachsen. Sein kurzes, dunkles Haar war wie immer stachelig eingegelt und verlor sich in den vereinzelt sprießenden Nackenhaaren. Der nächste Schlag traf ihn mitten auf den Scheitel. Er schrie auf, aber nur sehr leise, und sackte plötzlich auf dem Boden zusammen, obwohl er noch die Kraft hatte, beide Hände bis zum Kopf zu heben. In der Hand hielt er immer noch das Buch. Da schlug sie mit aller Wucht ein viertes und ein fünftes mal zu, immer mit der flachen Hammerseite, immer auf den Scheitel. Das Blut ergoß sich wie aus einem umgestoßenen Glas, und der Körper sackte zusammen. Sie trat mit der Spitze ihres Stiefels mehrmals unter das Kinn, sie deformierte den Kiefer bis er schräg herunterhing und sein Gesicht zu einer grässlich komischen Fratze verzerrte. Sie erinnerte sie an eine tote Kuh, die sie in jungen Jahren an einem heißen Sommertag bei einer Wanderung durch die Pyrenäen gesehen hatte. Die Kuh lag auf einer Anhöhe inmitten eines riesigen Federbetts, das die Vautoure hinterlassen hatten, als sie der Kuh beim Kampf um die Beute die Haut vom Unterkieger abgezogen haben mussten. Sie trat mit der Schuhspitze noch mehrmals unter die Schneidezähne, bis sie allesamt herausbrachen und zu einem blutrotten Klumpen verklebten. Sie ging einen Schritt zurück und beugte sich über sein Gesicht. Die Augen waren aufgequollen, und sahen so aus, als wollten sie aus den Höhlen springen, die Stirn und das ganze Gesicht waren zusammengedrückt und von einem Krampf entstellt, unterhalb der Nase nur unförmige Masse. Sie hatte den hilfesuchenden Blick in diesen Augen sehen wollen. Sie hatte ihn winseln sehen wollen und wie er über den Boden rutscht. Sie legte den Hammer neben den Toten auf den Boden und griff in die Brusttasche seine Hemdes, aus dem sein Handy herausragte. Sie bemühte sich, Flecken zu vermeiden, untersuchte ihre Kleidung. Als sie wieder auf der Schwelle zum Treppenhaus stand, überkam sie der Gedanke, dass die gesamte Situation nur ein Spiel, eine pure Möglichkeit darstellte und dass sie ganz einfach aus der Tür hinausspatzieren könnte. Sie musste über sich selbst lachen und ließ den Riegel ins Schloss schnappen.

Wenn man durch den Vordereingang kommt, steht man ein paar Schritte vor der Kasse. Ben bestellt sich einen Double-Cheeseburger, eine mittelgroße Cola und eine Portion in Ketchup getränkte Fritten. Der watschelnde Gang eines Kunden zur Kasse, das ratlose Zögern mit geöffnetem Mund, der Blick hoch zur Leuchtkarte. Auf der linken Seite befindet sich eine Trennwand: Viele fingerdicke Holzscheiben mit Zwischenräumen, durch die man auf den linken Bereich linsen kann. In diesem größeren Sitzbereich befindet sich an der hinteren Wand, senkrecht zur Eingangstür, die Kaffeebar mit der Vitrine, in der verschiedenste Kuchen, Donuts und Fruchtsäfte ausgestellt sind. Ben setzt sich an einen runden Tisch, der in einer Nische gelegen etwas abseits steht. Von hier aus kann man den Gang beobachten, links an der Kasse vorbei zu den Toiletten führt. Eine weile beobachtet er die Schilder, die an einem Nylonfaden von der Decke hängen und sich gleichmäßig wieder in ihre Ausgangsposition zurückdrehen. Der Luftzug der hereinkommenden Gäste versetzt die Schilder wieder in Bewegung. Er saugt an dem Strohalm und sucht in seiner Umhängetasche nach einem Buch. Er hat wieder vergessen, worum es gerade ging, blättert ein paar Seiten zurück, liest unkonzentriert. Er legt das Buch bei Seite und lutscht wieder an seinem Strohhalm. Er ist ohnehin nicht in der Stimmung zum lesen. Dann fällt ihm das Handy ein, dass er vorhin in der Bahn gefunden hat und kramt es aus seiner Jackentasche hervor. Es ist ein kleines schwarzes Samsung mit kleinen leuchtenden Tasten. Er entsperrt es und sucht im Hauptmenü nach der Bildergalerie, die er nicht findet, das Handy hat keine Kamera. Ben geht in den Nachrichtenspeicher unter „Gesendete Nachrichten“ und klickt sich bis zur ersten Nachricht runter.

(An Erik): Mir wird warm, wenn du schreibst!

(An Erik): Kümmer mich natürlich trotzdem um dich! :p

(An Erik): Hey, langsam mach ich mir echt sorgen! Meld dich mal! Grüße!

(An Erik): Du ich krig weder deinen fernseher noch deinen laptop an. Kannst mir bitte mal das pw schicken?

(An Erik): Bin bei Caro, alles gut. Habsch lieb. Rufst mich morgen mal an? Grüße

(An Erik): Moin mein lieber 🙂 kannst mich heut mal anrufen? Ich brauch mal deine hilfe. Grüße

(An Erik): Würdest du dich wieder bei mir melden? Mir geht’s mittlerweile auch besser

(An Nils): Moin dicker. Hat sich jetzt doch herausgestellt, dass ich Gott bin 🙂 kommst du mich Weihnachten besuchen?

(An Erik): Meld dich verflixt nochmal, kann doch nicht sein, dass du alles wegwirfst!

(An Erik): Bitte!

(An Erik): Ich kann das nicht glauben!

(An Erik): Keine Sorge, ich mache das alles Rückgängig!

(An Erik): Ich habe dich heute gesehen, du sahst so traurig aus!

(An Erik): Es ist alles gut Erik, vertrau mir!

(An Erik): bitte hilf mir

(An Erik): Ich verstehe jetzt viel besser, dass ich in der Lage bin, Dinge zu verändern. Ich habe eine Kraft. Ich möchte diese Kraft für uns beide nutzen 🙂

Das sind alle Nachrichten aus dem Ordner. Alle aus den letzten Tagen. Ben könnte das Handy ja einfach wegwerfen, ohnehin weiß er ja nicht, wer hinter diesen Namen steckt, man kann ihm das ja schlecht verübeln. Er öffnet den Ordner für empfangene Nachrichten und klickt sich wieder bis nach unten zu den ersten durch.

(Monique): Ich grüße Sie. Vielleicht haben Sie noch interesse am reden. Obwohl es nicht immer ganz leicht ist, zum thema buddhismus etwas zu sagen. Ich kann Ihnen dabei helfen, wie sie den Buddhismus mit ihrem Leben verbinden können. Es grüßt sie Monique

(Erik): Sorry hab nicht noch mal aufs handy geschaut. Nach einer Schlaftablette gestern abend bin ich übelst rumgesteuert, hat aber geholfen, 12h gepennt 😉

(Erik): Ich vermisse dich so sehr, deine nähe, deine küsse, deine berührung, einfach alles…

(Erik): Na guten morgen. Seit wann haben drachen schwarze haare?

(Erik): Hey, mir geht’s so lala… alles anstrengend hier „draußen“. Morgen komme ich mal zu Besuch, ca. um 2.

(Erik): Guten morgen, ich hab schon wieder von dir geträumt… die Begegnung im Traum war so schön und unkompliziert, ich glaub ich beam mich wieder dorthin zurück…

(Erik): Och meine süße, ich würde auch viel lieber mit dir irgendwo rumliegen. Kann mir vorstellen, dass es dort scheiße ist… lange musst du es nicht mehr aushalten. Hier ist es auch nicht besser, ohne dich.

(Papa): Wir kommen dich viellecith nach Weihnachten besuchen. Steht aber noch nicht fest. Und bezüglich deines Gottesgedankes muss ich dich enttäuchen!

(Nils): Servus, sry kann nicht telefonieren, bin arbeiten. Trotzdem frohe Weihnachten und lass dich nicht unterkriegen Digger, wir wollen doch mal in Zukunft nochmal zusammen feiern gehen 🙂

(Nils): Hey liebe, sorry, wenn ich micht jetzt erst melde. Aber im Gegensatz zu dir kann ich deine Situation kaum mit Humor betrachten. Weiss auch nicht, wie es mit dir in deinem „gott-mode“ weitergeht. Gut, das du mit deiner family wieder Frieden geschlossen hast. Leider überrascht es mich nicht, dass du wieder in Steinberg bist. Probier diesmal die Medi. Ich versuch morgen mit Rudi mal vorbeizukommen. Also dann, halt die Ohren steif.

(Papa): Yoho! Gesundes neues Jahr noch. Hoffentlich findest dieses Jahr deinen Platz im Leben. Mamas neue Nummer schick ich dir noch meine gute. Kein Problem…

(Mama): Dein Opa wird jetzt zur Singstunde abgeholt

(Erik): Hey, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser für uns beide ist, wenn wir uns nicht sehen. Jeder von uns sollte seine Kraft für sein Leben nutzen. Bitte respektiere meinen Wunsch

Ben war enttäuscht. Er hatte gehofft, er würde auf ein paar anzügliche Botschaften zu sehen bekommen. Aber nichts davon, alles vollkommen uninteressant. Er legt das Handy umsichtig auf einen Stuhl neben ihm. Aus der Küche steigt Dampf auf, ein Automat piept energisch, das Rasseln der durch die in blauen Plastikhandschuhen eingepackten Hände gleitenden Kette, mit denen die Mitarbeiterin draußen vor der Fensterscheibe die Stühle sichert. Die verdoppelten Spiegelreflexe auf der Glasoberfläche des Bildes hinten links, auf dem vier junge Leute beim Kaffeetrinken in McDonald’s zu sehen sind. Die Wände sind mit bunten Bildtapeten bekleidet, auf denen verschiedene Motive abgebildet sind. Auf einer sieht man einen Frauenmund, der in einen Apfel beißt. Eine andere zeigt eine Frau, die im Begriff ist, eine Fritte zu essen. Eine weitere zeigt einfach nur riesen große, gelbe Fritten.

Mehr von Joshua Schößler auf seinem Blog sukkulent.

Vorgestellt: Joshua Schößler

In der Reihe „Vorgestellt“ machen wir euch ab sofort mit (Nachwuchs-)Autoren bekannt, die aus Thüringen stammen, hier leben oder auf besondere Weise mit der Literaturszene des Freistaates und der Lesereihe „In guter Nachbarschaft“ verbunden sind. Los geht es mit dem Jenaer Joschua Schößler, der bereits mehrfach bei uns zu Gast am offenen Mikrofon war.

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Joshua Schößler, geb. 1992 in Düsseldorf, studiert seit 2012 Philosophie und germanistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Blog: sukkulent.

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Mario Osterland: Lieber Joshua, du warst schon mehrfach zu Gast am offenen Mikro bei In guter Nachbarschaft. Wie bist du eigentlich auf uns aufmerksam geworden?

Joshua Schößler: Das kam durch eine Germanistikvorlesung 2013. Moritz Gause saß zwei Plätze neben mir und las in so einen schicken Gedichtband von Frank O’Hara. Da habe ich den angesprochen und so ist man ins Gespräch gekommen. Kurz dannach war die Germanistik Weihnachtslesung, da haben wir beide was am offenen Mikrophon vorgetragen und dann hat Moritz mich gefragt, ob ich Lust hätte mal bei der guten Nachbarschaft auch was am offenen Mikrophon zu lesen.

M.O.: Also bist du von Anfang an sozusagen über das Format „offenes Mikrofon“ zur Nachbarschaft gekommen. Wie empfindest du diese Lesesituation bei uns?

J.S.: Schon ganz cool. Man hat es da ja mit einem recht interessierten Publikum zu tun, wobei ich bei der ersten Lesung bei euch schon das Flattern hatte. Man hat schon ein bisschen das Gefühl, dass das eine eingeschweißte Famile da ist, am Anfang habe ich mich noch gar nicht getraut, mit den anderen zu quatschen. Insgesamt aber ziemlich entspannt, ist auch immer interssant mitzubekommen, was die anderen dort vortragen. Auch die Gespräche mit den eingeladenen Vortragenden haben mir gut gefallen.

M.O.: So eine gewisse Vertrautheit strahlen solche Veranstaltungen ja immer aus. Ich hoffe nur wir schaffen es den neuen Autoren immer so offen wie möglich zu begegnen. Wir hatten zuletzt auch ziemlich viele Lyriker im Programm, auch am offenen Mikro. Hast du dich bisher als Prosaautor trotzdem gut aufgehoben gefühlt?

J.S.: Total, man fühlt sich auf jeden Fall ernst genommen. Insgesamt ist das eh ziemlich cool, dass die Texte recht durchmischt sind, auch mit der Mucke von Klinke auf Cinch, so alles in allem funktioniert das schon echt gut. Schade nur, dass die Hütte oft nicht zum bersten voll ist. Bei den Gedichten fände ich es vielleicht ganz cool, wenn man die irgendwie mitlesen könnte, so auf nem Handzettel oder an die Wand projiziert. Ich kann da sonst manchmal nicht so ganz folgen.

M.O.: Wir sind ja ständig dabei In guter Nachbarschaft weiter zu entwickeln. Da kommen solche Hinweise und Vorschläge gerade recht! – Kommen wir mal zu dir und deinem Schreiben. Du schreibst, wie gesagt, in erster Linie Prosa. Was reizt dich, vielleicht auch im Vergleich zum Dichten, am Erzählen?

J.S.: Ich habe mich auch schonmal am Dichten versucht, später dann auch im Rahmen eines Gedichte-schreiben-Seminars an der Uni. Aber mir fällt es bei Gedichten schwer, eine Idee an dieser Ausdrucksform zu entwickeln und dann später zu sagen, dass Geschriebene haut so hin. Ich könnte zu einer Idee mehrere völlig verschiedene Gedichte schreiben und am Ende nicht sagen, welches ich aus welchen Gründen jetzt gut finde. Bei der Prosa ist das anders, in dieser sprachlichen Form kann ich meine Ideen ganz anders entwickeln. Da sage ich mir jetzt nicht, dass ich das jetzt nochmal ganz anders schreiben könnte, ich kann da meinen Regeln und Ideen besser nachgehen. Und vielleicht ist das auch viel Gefühl, die Erzählform liegt mir einfach besser, ich kann konkreter werden und die Einzelbestandteile leichter sich auseinander entwickeln lassen und dann wieder zu einem größeren Ganzen zusammenführen. Ich lese auch recht wenig Lyrik, wobei ich aus der intensiven Beschäftigung mit Lyrik viel dichte Spracharbeit mitnehmen kann.

M.O.: Deine Erzählsprache ist jedenfalls nicht ganz unpoetisch. Ich zitiere nur mal eine Stelle, die mir zuletzt aufgefallen ist: „Mit flinken, aber liebevollen Handgriffen bediente sie die Kaffeemaschine. Virtuose Handgriffe, mit denen seine Mutter damals die Saiten der Küche in Harmonie zum klingen bringen konnte.“

J.S.: Man hat mir ja schon öfters gesagt, dass ich ein Händchen für sprachliche Bilder habe, das zieht sich schon durch. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich etwas geschrieben habe mit der Absicht, dass das Prosa wird und dann habe ich das so gedichtmäßig mit Absetzen versehen und das dann als Gedicht so stehen lassen.

M.O.: Klingt so, als gehst du ziemlich „open minded“ beim Schreiben vor. Wie wichtig ist es dir dem Text Freiheiten und sich selbst beim Schreiben überraschen zu lassen?

J.S.: Das ist mir schon ziemlich wichtig, was sich bei mir im ersten Schritt vor allem darin niederschlägt, dass ich alles Mögliche als Inspirationsquellen einbeziehe. In einem Text war das ein Rapsong, ein Frauenroman und ein Buch von Dostojewski. Seit kurzem experimentiere ich mit automatischen Textgeneratoren im Internet. Aber mir ist auch wichtig, dass die Texte nicht beliebig werden. Im zweiten Schritt mache ich mir schon Gedanken dazu, wie ich was warum zur Schriftform bringe. Ich stelle mir dann schon konkrete Regeln, an denen ich dann hinterher festmachen kann, ob mir das Resultat gelungen ist. Wenn ich irgendwelche Sprachexperimente mache, muss dabei auch was Handfestes für mich rumkommen, woran ich weiterarbeiten kann. Oft drifte ich beim Schreiben von der ursprünglichen Idee ab, dann werden die Regeln angepasst. Ich versuch da immer so ein Zwischending von selbst auferlegten Regeln und einem lebendigen Schreibprozess zu finden.

M.O.: Du hast einige Texte auf deinem Blog sukkulent veröffentlicht, in den denen vor allem die Figuren und weniger der plot im Vordergrund stehen. Eigentlich eine recht klassiche Herangehensweise ans Erzählen, oder? Eine Figur erfinden, sie einer oder mehrerer Situationen aussetzen und schauen, was passiert.

J.S.: Ja genau. Das kommt häufig von einem spontanen Einfall, ein Satz oder Gedanke, der mich nicht mehr loslässt und der sich weiterentwickeln lässt. Ich bin da nur irgendwann an dem Punkt angekommen, wo sich die Stories meinem Empfinden nach insgesamt eher im Kreis gedreht haben, das hat sich so eingeschlichen. Insgesamt haben mich die letzten Stories, die so entstanden sind, dann doch ziemlich gelangweilt. Gerade beschäftige ich mich auch mehr mit dem komplexeren Strukturieren meiner Geschichten, muss aber auch noch schauen, wo das hinführt.

M.O.: „Schauen, wo das hinführt“ ist ein gutes Schlusswort. Es würde mich freuen auch in Zukunft noch Einiges von dir zu hören und zu lesen. Vielleicht auch am offenen Mikrofon der Nachbarschaft?

J.S.: Wird wohl oder übel passieren.

M.O.: Lieber Joshua, vielen Dank für das Gespräch.