Die Sprache von Gibraltar (Auszug)
Die Geschichte meiner Abstammung
ist die Geschichte meiner Abstammung
die Geschichte meiner Hautfarbe
ist die Geschichte meiner Hautfarbe
es ist 2015, Oktober
es ist Bewegung auf den Kontinenten
die Stewardess mit den Apfelbrüsten
rammt ihre Absätze in den Flugzeugteppich
und fragt, ob ich süß oder salzig
ich bin bei den Satten, den Siegern
das ist mein Standpunkt
ich sehe das Meer, den Grenzübergang
hinter dem es eine Stunde früher ist
den Monte Gourougou, den Mischwald
eine spanische Fahne, groß wie ein Dach
ich gehe über das Rollfeld
ich setze meine Sonnenbrille auf
ich habe den Reisepass, ich kann mir
das Essen aussuchen, das Hotel, die Uhrzeit
mare nostrum, nicht eures
(c) Hanser Verlag, 2016
„mare nostrum, nicht eures“
Das Ergebnis seiner Recherchereise an die Grenzzaunanlage von Melilla, der spanischen Exklave in Nordafrika, ist Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar. Eine eindringliche, intensive Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Grenzverläufen zwischen Europa und Afrika, Armen und Reichen, zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Beobachtung und Handlung.
Die Reise beginnt mit der Reise, dem selbstverständlich gewordenen Flug über das Meer, das in allen Facetten von Grün und Blau unter einem liegt. Lebensfeindlich aufgeraut oder friedhofsstill. Es macht einen Unterschied, ob man nach Süden darüberfliegt oder von Süden hindurchfahren will. Die Badewanne Europas, unser Urlaubsmeer, hat längst seine Unschuld verloren.
Das Ich in diesem Gedicht kann sein Essen wählen, Grenzen passieren, ist auf dem Weg in sein Hotel mit Meer- und Grenzzaunblick. Es weiß noch nicht, was es erwartet. Wie das Leben der Asylsuchenden hinter (oder vor?) dem Zaun aussieht. Wie es aussieht, wenn man es mit eingenen Augen sieht, nicht im Fernsehen oder auf Handyvideos.
„Die Enden Europas/Europas Ende“, wie es an anderer Stelle in Kuhligks Gedicht heißt, war über Jahrzehnte, Jahrhunderte der Orient. Der war exotisch, mystisch und weit weg. Heute ist er erreichbar, aber man findet dort keine fliegenden Teppiche mehr. Hochhackigen Absätze nageln sie auf dem Boden der Tatsachen fest.
mo