Am 4.11. gibt es endlich eine neue Ausgabe von IN GUTER NACHBARSCHAFT. Wir kehren zurück in die Thüringer Landeshauptstadt mit einem Leseabend der besonderen Art. Zu Gast ist diesmal der Berliner Arzt und Schriftsteller Dr. Dr. Daniel Ketteler, der u.a. aus seinem Roman „Grauzone“ lesen wird.
Moderiert wird der Abend von Mario Osterland, der in der Vergangenheit ein Interview mit Ketteler zum Thema „Literatur und Rausch“ führte. Noch immer lesenwert und ein interessanter Vorgeschmack auf den Abend im FRANZ MEHLHOSE.
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„E.T.A. Hoffmanns Werke sind großartig, seine Leberwerte waren es nicht“
Mario Osterland: Als schreibender Mediziner stehst du in einer ziemlich illustren Reihe mit u.a. Schiller, Tschechow, Benn und Döblin. Worin liegt für dich der Reiz dieser Verbindung aus Literatur und Medizin?
Daniel Ketteler: Ja, das ist ein Riesenfeld und natürlich eine Riesenhypothek für jeden schreibenden Mediziner. Ich denke die Quelle dieser fruchtbaren Allianz ist die Begegnung mit Menschen und Schicksalen. Ich bekomme ja jeden Tag mindestens einen Romanplot geschenkt. Naja, sagen wir jede zweite Woche einen guten. Dazu muss man sich hineinversetzen in alle diese Menschen. Vor allem die Ärzte früherer Generationen hatten noch die Muße und konnten sich Zeit nehmen. Sie hatten auch Zeit für ein gutes Buch, eine Zeitung. Das waren noch richtige Bürger. Im heutigen klinischen Alltag ist wenig Raum für Romantik. Lies mal Irre von Goetz! Aber der Mensch in seiner vergänglichen Pracht prangt immer noch über allem.
Ich schätze vor allem Büchner sehr, der war ja auch Arzt. Aber da eine Linie zu ziehen wäre blasphemisch und vermessen. Döblin mag ich auch sehr, diesen frühen Cut-off. Bei beiden schimmert das Menschenliebende durch, da gibt es ein echtes Interesse am Schicksal des anderen. Natürlich sind gute Autoren auch immer böse, das hat George Steiner mal gesagt, aber Benn und Celine sind mir da sowohl als Ärzte, wie als Schriftsteller und Wissenschaftler etwas suspekt, da schimmert so etwas ekelhaft elitär-rechtsraunendes hindurch. Durch alle Poren. Das sind die zynischen Ärzte, die, die voller Mitleid und Ekel auf die Ausscheidungen blicken. Natürlich auch das unglaublich bereichernd in einem produktiven Sinn, aber ein Bierchen trinken würde ich dann doch lieber mit Georg B. als mit Gottfried B. Wir sind sterblich und das ist doch super so! Stell dir vor, du müsstest zig Millionen Jahre leben. Wie langweilig! Das wäre ein schlimmes Gefängnis. Nur unter Zeitdruck und mit Blick auf die Vergänglichkeit kann man doch den Ansporn haben, etwas zu schreiben, und die Ärzte sehen ja, je nach Disziplin, jeden Tag, wie schnell es wieder vorbei sein kann.

M. Osterland: Du hattest 2005 einen Aufsatz in der Kritischen Ausgabe publiziert, in dem es um den Zusammenhang von Drogenkonsum und Kreativität geht. Ist es dir generell ein Anliegen, den meist romantisierten Zusammenhang von Kunst und Rausch auf wissenschaftlichem Niveau zu begegnen?
D. Ketteler: Ja, das war eine Annäherung an das Thema mit wissenschaftlichem Anstrich. Aber der strenge Naturwissenschaftler würde das sicher anders machen. Ich selbst suche einen Weg zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Das geht am besten in einem leicht essayistischen Stil. Den klassischen »Journals« behagt das nicht, die wollen die standardisierte Form der Publikation (Abstract, Introduction, Methods, Discussion). Das finde ich teils sehr schade, denn so ist wenig Raum für assoziative, also künstlerisch-kreative Ideen. Kürzlich habe ich noch ein paar Gedanken zum Thema Genie und Wahn. Was ist dran? publiziert. Der Titel ist etwas albern, aber ich wollte den etwas verstaubten Mythos vom wahnsinnigen Künstlergenie mal auf eine neuronale Substanz und Tragfähigkeit hin prüfen.
M. Osterland: Mit welchem Ergebnis?
D. Ketteler: Die Neurobiologie und Empirie liefern hier wie so oft nur indirekte Nachweise. Zum einen ist es so, dass sich bei verschiedenen Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises Sprachpathologien finden, die in Kreativprozessen, also zum Beispiel bei Gedichten, gezielt genutzt werden; etwa Neologismen, Wortkontaminationen und ein manisches Zungenreden, Reimzwänge kommen vor und vieles mehr. Die menschliche Sprachfähigkeit, und hier gehe ich mit dem Psychologen Tim Crow, ist womöglich überhaupt die Grundlage für die menschliche Disposition zur Psychose. In der Psychose wiederum, und dies ist die etwas in Vergessenheit geratene Haupterkenntnis des Begründers des Schizophreniebegriffes Eugen Bleuler, fällt vor allem eine assoziative Lockerung ins Gewicht; dies vor allem sprachlich, aber auch inhaltsbezogen im Wahn. Das sind alles quasi autopoetische Konstruktionen der menschlichen Phantasie, einem Traum nicht unähnlich. Die Realität wird außer Kraft gesetzt, und nichts anderes machen schließlich die Künstler. Zu fragen ist deshalb eindeutig: hängen nicht hier Psychose (Wahn) und Kreativität (altmodisch: Genie) eng zusammen?
Reaktiviert man diese etwas vertaubten Thesen, eröffnen sich also womöglich neue alte Ansatzpunkte und etwas wie Psychose wird nicht rein diagnostisch ausgesondert, sondern zählt als menschliche Grunddisposition einfach zum Menschsein dazu. Die Psychose und Manie als Preis für die Kreativitätsfunktion und als Quelle derselben. Ich will diese leidvollen Krankheiten nicht verherrlichen, aber sie aus der unfallhaften Schmuddelecke holen. Leo Navratil beschrieb auch empirisch den Wandel von psychotischen Hausfrauen zu Kreativgeistern. Und auch die familiäre Häufung von Künstlerfamilien mit bipolaren Erkrankungen spricht für sich. Naiv ist aktuell die Idee, man schaut mittels bildgebenden Verfahren ins Künstlerhirn. Aber auch so etwas wird unternommen und führt vielleicht auch zu Erkenntnissen. Deduktiv kann man aber auch einfach eins und eins zusammenzählen.
M. Osterland: Das weicht dann natürlich die Grenzen von »normal« und »verrückt« endgültig auf.
D. Ketteler: Ja genau, diese Grenze ist ohnehin nur eine Schutzbehauptung, eine Illusion damit wir alle friedlich schlafen können. Genau wie wir uns fast alle jeden Tag vormachen, ewig zu leben. Jules Angst, ein Vertreter der Zürcher Schule, hat in Studien ein Kontinuum von Depression, Manie und Psychose an einer riesigen und immer noch laufenden Kohortenstudie eindrucksvoll nachgewiesen. Die Grenzen selbst der einzelnen Diagnosen sind fließend. Wie sollte es dann zum Gesunden anders sein?
M. Osterland: Ist der Rausch der Schlüssel zur oder gar das Wesen der Kreativität?
D. Ketteler: Das ist eine spannende Frage. Ich würde mich dem aber eher von einer anderen Seite nähern. Ich denke, dass vor allem Zustände der manischen Extase und assoziativen Lockerung, wie man sie bei der bipolaren Disposition (Manie) oder Psychose antrifft, ein Schaufenster zu Kreativprozessen bieten. Hierzu habe ich auch etwas im psychiatrischen Bereich geforscht, speziell was die assoziative Lockerung anbelangt. Bleuler hatte ein besonderes Augenmerk auf Sprachbesonderheiten in der Psychose gerichtet. Dies ging in der modernen Diagnostik zunehmend etwas unter. Aber vor allem die Lockerung von zuvor scheinbar festgeschriebenen Sinnzusammenhängen ist ein wesentlicher Effekt dichterischer Produktion. Durs Grünbein weist auf die EEG-Experimente in Njimwegen hin. Dort hatte man Probanden Wortpaarungen wie »Katze« und »Hund« präsentiert und eher kleine neuronale Ausschläge festgestellt. Bei »Katze« und »Mond« hingegen spielte das Hirn verrückt. Ich denke, dass im Hirn des Ekstatikers genau solche brisanten Neuschöpfungen und Rekombinationen stattfinden, die sich im Gesunden ein Dichter zunutze macht. Er kann, im Gegensatz zu einem aus den Fugen geratenen Maniker, kontrolliert auf Neuland zugreifen. Der Psychotiker und Manier wird hingegen quasi überrannt von seinen Wortflashs.
Auch Drogen können derartige Kicks sicher gezielt evozieren. Kontrollverlust ist ein Punkt, der Neokortex verliert die Kontrolle und subkortikale, tiefliegende Hirnstrukturen wie die Basalganglien übernehmen die Kontrolle. Benn hat dies intuitiv geahnt und spricht vom »Aufrauschen« und auch oft und in Varianten vom Tiefenhirn. Neuronal lassen sich derlei Prozesse heute darstellen. Allerdings funktioniert die Neurowissenschaft, Benn hat dies ebenfalls beklagt, leider sehr induktiv, kleinschrittig. Dadurch fehlt oft die Draufsicht. Sie ist geradezu verpönt, da sie spekulatives Strandgut anspült. Ich selbst denke aber, nur so kann man sich dem Thema konstruktiv nähern.
[Das ganze Interview lesen Sie hier.]
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IN GUTER NACHBARSCHAFT #14
Samstag, 4.11.2017 – 20 Uhr
Franz Mehlhose (Löberstraße 12, Erfurt)
Eintritt: 5,-/3,-€ (nur Abendkasse)