SUMMER EDITION Nachlese: Anja Kampmann

bernstein

ein manöver an der ostsee
als hielte sich das licht unter den schallwellen von geschossen
die man zur probe an die kalte schläfe
dieses himmels legt

es ist nicht so gemeint
dass dieser luftraum seine dörfer ganz vergisst
störche kommen
du siehst die bilder dieser flinten in den läufen
murmelt zukunft vor sich hin

es sind nur pflaumen die
ausgetrocknet schwarz zwischen den blüten hängen
schwarze falter täuschungen des lichts

oder die gräben um die Felder
die nun ausgerichtet sind.

Hier ist die Landschaft, das Offene

BALTOPS: So heißt ein multinationales Manöver, das seit 1971 jährlich im Ostseeraum stattfindet. Die NATO übt hier, zuletzt 45 Schiffe, 60 Luftfahrzeuge und 4000 Soldaten aus 14 Nationen; man übt sich in Koordination, Organisation, amphibische Landung: Partnerschaft für den Frieden vor der polnischen Küste. Das Gedicht bernstein von Anja Kampmann steht inmitten eines solchen Manövers; es ist das Auftaktgedicht von Proben von Stein und Licht und damit selbst so etwas wie ein ›Manöver‹: eine Einübung in die Erkundung einer Landschaft, von Offenheit als Gravitationszentrum der Anschauung.

Die ›Landung‹ beginnt, aber »es ist nicht so gemeint«; natürlich ist es das nicht, was hier geschieht, geschieht »auf probe«. In der Zwischenzeit kommen »störche«, bevölkern den »luftraum«, aber die »zukunft«, die sie bringen, verheißt nichts gutes. Russische Kampfflugzeuge ziehen auf, fliegen riskante Manöver: »täuschungen des lichts«. Und dennoch ist es ein hartes Licht, das sich da in dem Gedicht von Anja Kampmann absetzt, sich ständig »unter den schallwellen von geschossen« hinwegducken muss, die Konturen der »gräben« aber nur umso deutlicher hervortreten lässt – »bernstein« wird aus vorgeschichtlicher Zeit.

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Anja Kampmann – Proben von Stein und Licht. Gedichte. Edition Lyrik Kabinett/Hanser: München, 2016. (96 Seiten, 15,90 €, ISBN 978-3-446-25053-6)

SUMMER EDITION Nachlese: Christoph Wenzel

der boden unter den füßen

den verschwundenen dörfern im rheinischen braunkohlerevier

I

weißkohl-, wirsing-, möhrenfelder, letzte ernten und

ein stoppelbild, mit igelschnitt, so geisterten die jungs hier

rum, kickten bälle in die fremden gärten, knickten flieder,

brombeer, buchsbaum, diese feldspieler im abseits, und das tor

bleibt wie vernagelt, vor der tür steht ein vertreter, unter-

händler, breitet angebote auf der wachstischdecke aus: lukrativ

sei der vereinswechsel ins nachbardorf und ohnehin

geht hier bald alles vor die hunde, eh man sich versieht,

fällt man in ein großes loch: und wenn wir hier schon nichts

gewinnen, treten wir euch wenigstens den platz kaputt

Vielschichtig ist das Land, vielschichtig die Zeit und das Erinnern.

Mit seinem Buch lidschluss widmet sich Christoph Wenzel dem Strukturwandel seiner rheinisch-westfälischen Heimat. Er legt Querschnitte an von der Braunkohle in der Tiefe bis zur vermeintlichen Oberfläche, Längsschnitte vom Vorgarten des Eigenheims bis zum Fußballplatz und darüber hinaus. Als allgemeingültige Denkmäler für die, dem Tagebau gewichenen Dörfer lassen sich Wenzels Gedichte lesen. Aber auch als ganz individuelle Szenen, die abknickende Sträucher, zerbrochene Fenster und das Rufen der Pöhler vor dem inneren Auge bzw. Ohr entstehen lassen.

Das sind schöne und zugleich tragische Erinnerungen an eine Zeit, deren Orte unauffindbar geworden sind. Für die ein simuliertes Dorf zur Umsiedlung niemals wird Ersatz schaffen können. Wie lukrativ der Wechsel nach nebenan wirklich ist, bleibt also offen. All dem begegnet Wenzel mit viel Empathie, die jedoch nicht in Rührseeligkeit abkippt. Dafür sorgt etwa die Fußballmetapher, die das hier wiedergegebene Gedicht zusammenhält. Vielleicht lohnt das Aufreißen der Erde unter dem Dorf gar nicht und alles wurde umsonst aufgegeben. „Dann treten wir euch wenigstens den Platz kaputt.“ Für alles im Leben, gibt es die richtige Fußballweisheit. Manchmal hilft eben nur noch Lakonie und Galgenhumor.

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Christoph Wenzel – lidschluss. Gedichte. Edition Korrespondenzen: Wien, 2015. (96 Seiten, 17,50 €, ISBN 978-3-902951-15-1)

Joshua Schößler – In den Pyrenäen

Die enge Wendeltreppe hinauf, geblendet von dem schräg durch die verstaubten Einfachverglasungen fallenden Sonnenlicht. Erster Stock. Die Stufen knarzten unter den bedächtigen Schritten, die grün gestrichene Decke glitt dicht über ihren Scheitel vorbei. Zweiter Stock, Laura versuchte ihren Atem zu beruhigen und fragte sich, ob das Herzklopfen allein von der Anstrengung des Treppensteigens käme. Es ist noch nicht lange her, dass sie das letzte mal hier war, vielleicht eine Woche. Da war sie mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit diese sich in ihr eigenes Innere drehende Treppe hinaufgestiegen. Hatte sie da auch schon so schwer geatmet? Dritter oder vierter Stock? Ihre Handflächen rutschten über das unebene Holz des Treppengeländers. Das war die Tür, Laura trat auf die Schwelle und klingelte, sie wippte absichtlich auf den Fußballen und murmelte ein wenig, um nicht den Anschein der Heimlichkeit zu erwecken. Einen Augenblick später hörte sie, wie die Türkette zurückgeschlagen wurde.

Etwas früher. Es sei besser, wenn sie es beendeten. Er könne das nicht mehr, seine Kräfte seien erschöpft. Ein kurzer Vortrag darüber, wie er sich die letzten Monate gefühlt habe. Dass sie Zeit brauche, um wieder zu sich zu finden, sie hätte sich verloren, sie könne so nicht weitermachen. Die Situation verlor sich irgendwann und der Bonsai ließ sich von Laura ein paar Blätter zupfen. Sie nahm ein paar fast vergessene Briefumschläge vom Schreibtisch, die sich von ihr öffnen ließen. Kleine schwarze Zahlen, kaum zu entziffern, tief aus den Eingeweiden eines anonymen Apparats. Mehrere Bögen roter Zahlen. Werbung. Eine große Tageszeitung, die sie nicht abboniert hatte. Mahnungen. Wer stopfte ihr eigentlich die ganze Papiermasse in den Briefschlitz? Eine Postkarte von einer Insel, die sie nicht kannte. Sie stellte sich vor, wie sie den Sand in ihrer Faust zerdrückte, wie sie die ganze Insel zerdrückte und tief im Meeresboden vergrub. Sie drehte die Postkarte um, Werbung für ein Reisebüro. Sie nahm ihr Handy und schickte ihm ein paar SMS, legte es wieder weg und rauchte. Ein weiterer Brief entfaltete sich vor ihren Augen, sollte der Strom abgestellt werden? Oder das Internet? War das nicht das selbe? War das ein böser Streich, den man ihr spielte? Noch eine SMS und zwei Anrufe. Wo sollte sie anfangen? Unvorstellbar, sie sei nicht liebenswürdig. Das war doch alles gar nicht ihre Schuld. Seine aber auch nicht, er meinte ja, dass es hier gar nicht um Schuld gehe, dass sich die Dinge so entwickelt hätten, dass man es nicht habe kommen sehen. In der ganzen Sache musste es ein Muster geben, eine verborgene Struktur. Eine Einladung zum freikirchlichen Gottesdienst kommenden Sonntag. Ein handgeschriebener Zettel von der Vermieterin, der Schornsteinfeger sei letzte Woche in ihrer Wohnung gewesen, habe irgendwas abgelesen. Hat sie ihm die Tür geöffnet? Die Vermietung hatte sich nicht mehr gemeldet, also musste sie ihn reingelassen haben. Hitze kam in ihr auf, sie spürte, wie sie zu fiebern begann. Sie warf einen Blick über ihre Schulter um die Uhrzeit an der Mikrowelle abzulesen, aber die Mikrowelle war schon seit einem Monat nicht mehr da. So ganz konnte sie sich nicht daran gewöhnen. Sie kam ohne Mikrowelle besser zurecht, als sie es sich zugetraut hatte, aber sie versuchte immer noch, die Uhr an ihr abzulesen. In der Erde ihres Bonsais beobachtete sie ein paar Fliegenlarven. Die einzige Pflanze, die sie düngte. Sie konnte sich nicht erklären, wo die Tiere immer herkamen, aber der Zusammenhang musste von dem Dünger aus seinen Anfang nehmen, musste auch etwas mit den Rechnungen und Erik zu tun haben. Sie nahm sich Zettel und Stift und versuchte, die Kausalitäten abzubilden, an die Gedanken zu binden und die Gedanken wieder mit äußeren Umständen zu verknüpften und geriet schließlich in ein furchtbares Durcheinander. Sie tippte hektisch noch ein paar SMS. Auf dem Nachttisch lag noch das Buch, das Erik hier hatte liegen lassen. Es war Schuld und Sühne, es musste das dutzendste Mal sein, dass er diesen klebrigen Wälzer las.

Die Kette wurde aus der Schiene gezogen und klapperte gegen den Rahmen. Die Tür öffnete sich, erst einen kleinen Spalt, dann schwungvoll weiter. „Hey, wie geht es dir? Ich habe dich schon hundert mal angerufen, du bist nie rangegangen.“ In diesem Moment kamen ihr ihre Pläne vollkommen irrsinnig vor und sie warf sie mit einem Mal über Bord.

Naja, ich war beschäftigt. Ich wollte dir auch nicht zu viel von deiner Zeit stehlen und dir auch eigentlich nur dein Buch vorbeibringen, dass du bei mir vergessen hast.“

Das hatte ich ja ganz vergessen. Willst du vielleicht noch mal kurz reinkommen?“

Ehrlich gesagt wollte ich dir nur dein Buch zurückgeben.. Ich habe noch eine Verabredung.“ Sie fügte das mit Absicht hinzu, aber diese scheinbar beiläufige Bemerkung schien bei Erik keine Wirkung zu haben. Zum Abschied umarmten sie sich. Auf dem Heimweg dachte sie nach. Die drückende Hitze machte ihr zu schaffen. Im Grunde genommen ist es doch gut gelaufen. Viel besser, als was sie sich vorgenommen hatte. Zuhause angekommen war sie sich sicher, das Ganze einfach abschließen zu können, wie man so sagt, drüber hinwegkommen und die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein lassen. So eine Sache war es gar nicht wert, dass man sich länger damit aufhielt. Sie könnte jetzt alles irgendwie anders machen, nochmal neu starten, da war ein Plan, ihr Plan, der sich in das Kausalitätennetz fügte.

Aber in dem selben Moment, wo der Fahrstuhl wieder zurückkehrte, kamen ihr ihre eigenen Gedanken wieder sehr einfältig vor. Sie begann wieder den Überblick zu verlieren, die geheime Struktur, ihre Gedanken verworren sich wieder und die Fahrstuhltür öffnete sich. Sie musste über sich selbst lachen. So hatte sich die Geschichte nicht zugetragen.

Die Kette wurde aus der Schiene gezogen und klapperte gegen den Rahmen. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt und seine Augen fixierten mit stechendem Argwohn aus dem Dunkel. Ahnte er etwas? In dem Moment verlor Laura den Kopf und machte einen großen Fehler. Da sie befürchtete, Erik würde erschrecken, packte sie die Türklinke und schob die Tür etwas weiter auf, damit er nicht auf den Gedanken käme, die Tür einfach wieder zuzuknallen. Als er das merkte, versuchte er es zwar nicht, ließ die Klinke aber doch nicht los, so daß sie ihn mit der Tür beinahe ins Treppenhaus gedrückt hätte. Als sie sah, dass er hinter der Tür stehenblieb, sie nicht durchlassen wollte, ging sie direkt auf ihn zu. Er wich erschrocken zurück, wollte etwas sagen, schien es aber nicht zu können und starrte sie nur unverwandt an.

Hallo Erik“, begann sie möglichst ungezwungen, aber ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen, versagte und zitterte. „Ich bringe dir… das Buch…. Aber lass uns lieber hineingehen… ans Licht…“ Sie ließ ihn stehen und trat unaufgefordert in den Flur. Er eilte ihr nach, er hatte die Sprache wiedergefunden.

Oh Gott! Was willst du?“

Aber ich bitte dich, du hast noch das Buch bei mir vergessen, dass du so gerne hast.“ Und sie hielt ihm das Päckchen hin. Er blickte es kurz an, richtete aber sofort die Augen in die der unerwarteten Besucherin. Er war aufmerksam, gereizt und argwöhnisch. Es verging etwa eine Minute. Sie glaubte sogar in seinen Augen etwas wie Spott zu lesen, als hätte er bereits alles durchschaut. Sie fühlte, dass sie im Begriff war, die Fassung zu verlieren, dass in ihr Angst aufstieg, eine solche Angst, dass sie, hätte er ihn noch eine halbe Minute länger angesehen, vielleicht davongelaufen wäre.

Warum siehst du mich denn so an, als ob du nicht wüsstest, wer ich bin?“, sagte sie plötzlich ebenso böse. „Wenn du willst, dann nimm das Buch, wenn nicht – gehe ich woanders hin. Ich habe keine Zeit.“

Sie hatte nicht vorgehabt, so zu reden. Die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen. Erik hatte sich inzwischen gefasst, der entschiedene Ton seines Besuchs hatte ihn offenbar beruhigt. Er streckte die Hand aus und nahm das Buch. „Ja. Danke. Und warum bist du so bleich? Da, deine Hände zittern ja.“

Ich habe Fieber“, fügte sie mit letzter Anstrengung hinzu. Aber ihre Antwort klang überzeugend, er nahm das Päckchen.

Aber warum hast du es so fest eingepackt?“

Während er versuchte, den Bindfaden aufzuknüpfen, und sich dem Fenster, dem Licht zuwandte, ließ er sie einige Sekunden aus den Augen und kehrte ihr den Rücken zu. Sie knüpfte die Jacke auf und löste den Hammer aus der Schlinge, die sie an die Innenseite genäht hatte, holte ihn aber nicht hervor, sondern hielt ihn mit der rechten Hand unter der Jacke fest. Ihre Arme waren furchtbar kraftlos, sie spürte, wie sie mit jedem Augenblick mehr erlahmten und erstarrten. Sie fürchtete, dass sie den Hammer nicht würde länger halten können und ihn fallen lassen müsste. Plötzlich glaubte sie zu taumeln.

Aber wie du das verschnürt hast!“, rief er ärgerlich und machte eine Bewegung, als wollte er sich ihr wieder zuwenden.

Kein Augenblick war mehr zu verlieren. Sie zog den Hammer hervor, holte mit beiden Armen aus und ließ ihn, beinahe ohnmächtig auf seinen Kopf fallen. Sie hatte geglaubt, sie wäre kraftlos, aber kaum hatte sie den Hammer ein weiteres mal fallen lassen, da fühlte sie ihre Kraft wieder wachsen. Sein kurzes, dunkles Haar war wie immer stachelig eingegelt und verlor sich in den vereinzelt sprießenden Nackenhaaren. Der nächste Schlag traf ihn mitten auf den Scheitel. Er schrie auf, aber nur sehr leise, und sackte plötzlich auf dem Boden zusammen, obwohl er noch die Kraft hatte, beide Hände bis zum Kopf zu heben. In der Hand hielt er immer noch das Buch. Da schlug sie mit aller Wucht ein viertes und ein fünftes mal zu, immer mit der flachen Hammerseite, immer auf den Scheitel. Das Blut ergoß sich wie aus einem umgestoßenen Glas, und der Körper sackte zusammen. Sie trat mit der Spitze ihres Stiefels mehrmals unter das Kinn, sie deformierte den Kiefer bis er schräg herunterhing und sein Gesicht zu einer grässlich komischen Fratze verzerrte. Sie erinnerte sie an eine tote Kuh, die sie in jungen Jahren an einem heißen Sommertag bei einer Wanderung durch die Pyrenäen gesehen hatte. Die Kuh lag auf einer Anhöhe inmitten eines riesigen Federbetts, das die Vautoure hinterlassen hatten, als sie der Kuh beim Kampf um die Beute die Haut vom Unterkieger abgezogen haben mussten. Sie trat mit der Schuhspitze noch mehrmals unter die Schneidezähne, bis sie allesamt herausbrachen und zu einem blutrotten Klumpen verklebten. Sie ging einen Schritt zurück und beugte sich über sein Gesicht. Die Augen waren aufgequollen, und sahen so aus, als wollten sie aus den Höhlen springen, die Stirn und das ganze Gesicht waren zusammengedrückt und von einem Krampf entstellt, unterhalb der Nase nur unförmige Masse. Sie hatte den hilfesuchenden Blick in diesen Augen sehen wollen. Sie hatte ihn winseln sehen wollen und wie er über den Boden rutscht. Sie legte den Hammer neben den Toten auf den Boden und griff in die Brusttasche seine Hemdes, aus dem sein Handy herausragte. Sie bemühte sich, Flecken zu vermeiden, untersuchte ihre Kleidung. Als sie wieder auf der Schwelle zum Treppenhaus stand, überkam sie der Gedanke, dass die gesamte Situation nur ein Spiel, eine pure Möglichkeit darstellte und dass sie ganz einfach aus der Tür hinausspatzieren könnte. Sie musste über sich selbst lachen und ließ den Riegel ins Schloss schnappen.

Wenn man durch den Vordereingang kommt, steht man ein paar Schritte vor der Kasse. Ben bestellt sich einen Double-Cheeseburger, eine mittelgroße Cola und eine Portion in Ketchup getränkte Fritten. Der watschelnde Gang eines Kunden zur Kasse, das ratlose Zögern mit geöffnetem Mund, der Blick hoch zur Leuchtkarte. Auf der linken Seite befindet sich eine Trennwand: Viele fingerdicke Holzscheiben mit Zwischenräumen, durch die man auf den linken Bereich linsen kann. In diesem größeren Sitzbereich befindet sich an der hinteren Wand, senkrecht zur Eingangstür, die Kaffeebar mit der Vitrine, in der verschiedenste Kuchen, Donuts und Fruchtsäfte ausgestellt sind. Ben setzt sich an einen runden Tisch, der in einer Nische gelegen etwas abseits steht. Von hier aus kann man den Gang beobachten, links an der Kasse vorbei zu den Toiletten führt. Eine weile beobachtet er die Schilder, die an einem Nylonfaden von der Decke hängen und sich gleichmäßig wieder in ihre Ausgangsposition zurückdrehen. Der Luftzug der hereinkommenden Gäste versetzt die Schilder wieder in Bewegung. Er saugt an dem Strohalm und sucht in seiner Umhängetasche nach einem Buch. Er hat wieder vergessen, worum es gerade ging, blättert ein paar Seiten zurück, liest unkonzentriert. Er legt das Buch bei Seite und lutscht wieder an seinem Strohhalm. Er ist ohnehin nicht in der Stimmung zum lesen. Dann fällt ihm das Handy ein, dass er vorhin in der Bahn gefunden hat und kramt es aus seiner Jackentasche hervor. Es ist ein kleines schwarzes Samsung mit kleinen leuchtenden Tasten. Er entsperrt es und sucht im Hauptmenü nach der Bildergalerie, die er nicht findet, das Handy hat keine Kamera. Ben geht in den Nachrichtenspeicher unter „Gesendete Nachrichten“ und klickt sich bis zur ersten Nachricht runter.

(An Erik): Mir wird warm, wenn du schreibst!

(An Erik): Kümmer mich natürlich trotzdem um dich! :p

(An Erik): Hey, langsam mach ich mir echt sorgen! Meld dich mal! Grüße!

(An Erik): Du ich krig weder deinen fernseher noch deinen laptop an. Kannst mir bitte mal das pw schicken?

(An Erik): Bin bei Caro, alles gut. Habsch lieb. Rufst mich morgen mal an? Grüße

(An Erik): Moin mein lieber 🙂 kannst mich heut mal anrufen? Ich brauch mal deine hilfe. Grüße

(An Erik): Würdest du dich wieder bei mir melden? Mir geht’s mittlerweile auch besser

(An Nils): Moin dicker. Hat sich jetzt doch herausgestellt, dass ich Gott bin 🙂 kommst du mich Weihnachten besuchen?

(An Erik): Meld dich verflixt nochmal, kann doch nicht sein, dass du alles wegwirfst!

(An Erik): Bitte!

(An Erik): Ich kann das nicht glauben!

(An Erik): Keine Sorge, ich mache das alles Rückgängig!

(An Erik): Ich habe dich heute gesehen, du sahst so traurig aus!

(An Erik): Es ist alles gut Erik, vertrau mir!

(An Erik): bitte hilf mir

(An Erik): Ich verstehe jetzt viel besser, dass ich in der Lage bin, Dinge zu verändern. Ich habe eine Kraft. Ich möchte diese Kraft für uns beide nutzen 🙂

Das sind alle Nachrichten aus dem Ordner. Alle aus den letzten Tagen. Ben könnte das Handy ja einfach wegwerfen, ohnehin weiß er ja nicht, wer hinter diesen Namen steckt, man kann ihm das ja schlecht verübeln. Er öffnet den Ordner für empfangene Nachrichten und klickt sich wieder bis nach unten zu den ersten durch.

(Monique): Ich grüße Sie. Vielleicht haben Sie noch interesse am reden. Obwohl es nicht immer ganz leicht ist, zum thema buddhismus etwas zu sagen. Ich kann Ihnen dabei helfen, wie sie den Buddhismus mit ihrem Leben verbinden können. Es grüßt sie Monique

(Erik): Sorry hab nicht noch mal aufs handy geschaut. Nach einer Schlaftablette gestern abend bin ich übelst rumgesteuert, hat aber geholfen, 12h gepennt 😉

(Erik): Ich vermisse dich so sehr, deine nähe, deine küsse, deine berührung, einfach alles…

(Erik): Na guten morgen. Seit wann haben drachen schwarze haare?

(Erik): Hey, mir geht’s so lala… alles anstrengend hier „draußen“. Morgen komme ich mal zu Besuch, ca. um 2.

(Erik): Guten morgen, ich hab schon wieder von dir geträumt… die Begegnung im Traum war so schön und unkompliziert, ich glaub ich beam mich wieder dorthin zurück…

(Erik): Och meine süße, ich würde auch viel lieber mit dir irgendwo rumliegen. Kann mir vorstellen, dass es dort scheiße ist… lange musst du es nicht mehr aushalten. Hier ist es auch nicht besser, ohne dich.

(Papa): Wir kommen dich viellecith nach Weihnachten besuchen. Steht aber noch nicht fest. Und bezüglich deines Gottesgedankes muss ich dich enttäuchen!

(Nils): Servus, sry kann nicht telefonieren, bin arbeiten. Trotzdem frohe Weihnachten und lass dich nicht unterkriegen Digger, wir wollen doch mal in Zukunft nochmal zusammen feiern gehen 🙂

(Nils): Hey liebe, sorry, wenn ich micht jetzt erst melde. Aber im Gegensatz zu dir kann ich deine Situation kaum mit Humor betrachten. Weiss auch nicht, wie es mit dir in deinem „gott-mode“ weitergeht. Gut, das du mit deiner family wieder Frieden geschlossen hast. Leider überrascht es mich nicht, dass du wieder in Steinberg bist. Probier diesmal die Medi. Ich versuch morgen mit Rudi mal vorbeizukommen. Also dann, halt die Ohren steif.

(Papa): Yoho! Gesundes neues Jahr noch. Hoffentlich findest dieses Jahr deinen Platz im Leben. Mamas neue Nummer schick ich dir noch meine gute. Kein Problem…

(Mama): Dein Opa wird jetzt zur Singstunde abgeholt

(Erik): Hey, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser für uns beide ist, wenn wir uns nicht sehen. Jeder von uns sollte seine Kraft für sein Leben nutzen. Bitte respektiere meinen Wunsch

Ben war enttäuscht. Er hatte gehofft, er würde auf ein paar anzügliche Botschaften zu sehen bekommen. Aber nichts davon, alles vollkommen uninteressant. Er legt das Handy umsichtig auf einen Stuhl neben ihm. Aus der Küche steigt Dampf auf, ein Automat piept energisch, das Rasseln der durch die in blauen Plastikhandschuhen eingepackten Hände gleitenden Kette, mit denen die Mitarbeiterin draußen vor der Fensterscheibe die Stühle sichert. Die verdoppelten Spiegelreflexe auf der Glasoberfläche des Bildes hinten links, auf dem vier junge Leute beim Kaffeetrinken in McDonald’s zu sehen sind. Die Wände sind mit bunten Bildtapeten bekleidet, auf denen verschiedene Motive abgebildet sind. Auf einer sieht man einen Frauenmund, der in einen Apfel beißt. Eine andere zeigt eine Frau, die im Begriff ist, eine Fritte zu essen. Eine weitere zeigt einfach nur riesen große, gelbe Fritten.

Mehr von Joshua Schößler auf seinem Blog sukkulent.

Vorgestellt: Joshua Schößler

In der Reihe „Vorgestellt“ machen wir euch ab sofort mit (Nachwuchs-)Autoren bekannt, die aus Thüringen stammen, hier leben oder auf besondere Weise mit der Literaturszene des Freistaates und der Lesereihe „In guter Nachbarschaft“ verbunden sind. Los geht es mit dem Jenaer Joschua Schößler, der bereits mehrfach bei uns zu Gast am offenen Mikrofon war.

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Joshua Schößler, geb. 1992 in Düsseldorf, studiert seit 2012 Philosophie und germanistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Blog: sukkulent.

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Mario Osterland: Lieber Joshua, du warst schon mehrfach zu Gast am offenen Mikro bei In guter Nachbarschaft. Wie bist du eigentlich auf uns aufmerksam geworden?

Joshua Schößler: Das kam durch eine Germanistikvorlesung 2013. Moritz Gause saß zwei Plätze neben mir und las in so einen schicken Gedichtband von Frank O’Hara. Da habe ich den angesprochen und so ist man ins Gespräch gekommen. Kurz dannach war die Germanistik Weihnachtslesung, da haben wir beide was am offenen Mikrophon vorgetragen und dann hat Moritz mich gefragt, ob ich Lust hätte mal bei der guten Nachbarschaft auch was am offenen Mikrophon zu lesen.

M.O.: Also bist du von Anfang an sozusagen über das Format „offenes Mikrofon“ zur Nachbarschaft gekommen. Wie empfindest du diese Lesesituation bei uns?

J.S.: Schon ganz cool. Man hat es da ja mit einem recht interessierten Publikum zu tun, wobei ich bei der ersten Lesung bei euch schon das Flattern hatte. Man hat schon ein bisschen das Gefühl, dass das eine eingeschweißte Famile da ist, am Anfang habe ich mich noch gar nicht getraut, mit den anderen zu quatschen. Insgesamt aber ziemlich entspannt, ist auch immer interssant mitzubekommen, was die anderen dort vortragen. Auch die Gespräche mit den eingeladenen Vortragenden haben mir gut gefallen.

M.O.: So eine gewisse Vertrautheit strahlen solche Veranstaltungen ja immer aus. Ich hoffe nur wir schaffen es den neuen Autoren immer so offen wie möglich zu begegnen. Wir hatten zuletzt auch ziemlich viele Lyriker im Programm, auch am offenen Mikro. Hast du dich bisher als Prosaautor trotzdem gut aufgehoben gefühlt?

J.S.: Total, man fühlt sich auf jeden Fall ernst genommen. Insgesamt ist das eh ziemlich cool, dass die Texte recht durchmischt sind, auch mit der Mucke von Klinke auf Cinch, so alles in allem funktioniert das schon echt gut. Schade nur, dass die Hütte oft nicht zum bersten voll ist. Bei den Gedichten fände ich es vielleicht ganz cool, wenn man die irgendwie mitlesen könnte, so auf nem Handzettel oder an die Wand projiziert. Ich kann da sonst manchmal nicht so ganz folgen.

M.O.: Wir sind ja ständig dabei In guter Nachbarschaft weiter zu entwickeln. Da kommen solche Hinweise und Vorschläge gerade recht! – Kommen wir mal zu dir und deinem Schreiben. Du schreibst, wie gesagt, in erster Linie Prosa. Was reizt dich, vielleicht auch im Vergleich zum Dichten, am Erzählen?

J.S.: Ich habe mich auch schonmal am Dichten versucht, später dann auch im Rahmen eines Gedichte-schreiben-Seminars an der Uni. Aber mir fällt es bei Gedichten schwer, eine Idee an dieser Ausdrucksform zu entwickeln und dann später zu sagen, dass Geschriebene haut so hin. Ich könnte zu einer Idee mehrere völlig verschiedene Gedichte schreiben und am Ende nicht sagen, welches ich aus welchen Gründen jetzt gut finde. Bei der Prosa ist das anders, in dieser sprachlichen Form kann ich meine Ideen ganz anders entwickeln. Da sage ich mir jetzt nicht, dass ich das jetzt nochmal ganz anders schreiben könnte, ich kann da meinen Regeln und Ideen besser nachgehen. Und vielleicht ist das auch viel Gefühl, die Erzählform liegt mir einfach besser, ich kann konkreter werden und die Einzelbestandteile leichter sich auseinander entwickeln lassen und dann wieder zu einem größeren Ganzen zusammenführen. Ich lese auch recht wenig Lyrik, wobei ich aus der intensiven Beschäftigung mit Lyrik viel dichte Spracharbeit mitnehmen kann.

M.O.: Deine Erzählsprache ist jedenfalls nicht ganz unpoetisch. Ich zitiere nur mal eine Stelle, die mir zuletzt aufgefallen ist: „Mit flinken, aber liebevollen Handgriffen bediente sie die Kaffeemaschine. Virtuose Handgriffe, mit denen seine Mutter damals die Saiten der Küche in Harmonie zum klingen bringen konnte.“

J.S.: Man hat mir ja schon öfters gesagt, dass ich ein Händchen für sprachliche Bilder habe, das zieht sich schon durch. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich etwas geschrieben habe mit der Absicht, dass das Prosa wird und dann habe ich das so gedichtmäßig mit Absetzen versehen und das dann als Gedicht so stehen lassen.

M.O.: Klingt so, als gehst du ziemlich „open minded“ beim Schreiben vor. Wie wichtig ist es dir dem Text Freiheiten und sich selbst beim Schreiben überraschen zu lassen?

J.S.: Das ist mir schon ziemlich wichtig, was sich bei mir im ersten Schritt vor allem darin niederschlägt, dass ich alles Mögliche als Inspirationsquellen einbeziehe. In einem Text war das ein Rapsong, ein Frauenroman und ein Buch von Dostojewski. Seit kurzem experimentiere ich mit automatischen Textgeneratoren im Internet. Aber mir ist auch wichtig, dass die Texte nicht beliebig werden. Im zweiten Schritt mache ich mir schon Gedanken dazu, wie ich was warum zur Schriftform bringe. Ich stelle mir dann schon konkrete Regeln, an denen ich dann hinterher festmachen kann, ob mir das Resultat gelungen ist. Wenn ich irgendwelche Sprachexperimente mache, muss dabei auch was Handfestes für mich rumkommen, woran ich weiterarbeiten kann. Oft drifte ich beim Schreiben von der ursprünglichen Idee ab, dann werden die Regeln angepasst. Ich versuch da immer so ein Zwischending von selbst auferlegten Regeln und einem lebendigen Schreibprozess zu finden.

M.O.: Du hast einige Texte auf deinem Blog sukkulent veröffentlicht, in den denen vor allem die Figuren und weniger der plot im Vordergrund stehen. Eigentlich eine recht klassiche Herangehensweise ans Erzählen, oder? Eine Figur erfinden, sie einer oder mehrerer Situationen aussetzen und schauen, was passiert.

J.S.: Ja genau. Das kommt häufig von einem spontanen Einfall, ein Satz oder Gedanke, der mich nicht mehr loslässt und der sich weiterentwickeln lässt. Ich bin da nur irgendwann an dem Punkt angekommen, wo sich die Stories meinem Empfinden nach insgesamt eher im Kreis gedreht haben, das hat sich so eingeschlichen. Insgesamt haben mich die letzten Stories, die so entstanden sind, dann doch ziemlich gelangweilt. Gerade beschäftige ich mich auch mehr mit dem komplexeren Strukturieren meiner Geschichten, muss aber auch noch schauen, wo das hinführt.

M.O.: „Schauen, wo das hinführt“ ist ein gutes Schlusswort. Es würde mich freuen auch in Zukunft noch Einiges von dir zu hören und zu lesen. Vielleicht auch am offenen Mikrofon der Nachbarschaft?

J.S.: Wird wohl oder übel passieren.

M.O.: Lieber Joshua, vielen Dank für das Gespräch.

1.8. – Blaubart & Ginster #2 – Zu Gast: Peter Neumann

Heute um 15 Uhr läuft die zweite Ausgabe von Blaubart & Ginster – Eine Stunde Literatur im Radio OKJ mit den Moderatoren Ralf Schönfelder und Nachbarschafts-Mitorganisator Mario Osterland. Zu Gast ist Peter Neumann, der ebenfalls Mitorganisator von In guter Nachbarschaft ist. Eine Überschneidung, die in der Thüringer Literaturszene (wie in den meisten Szenen) nicht ausbleibt.

Warum solche Schnittmengen jedoch von Vorteil sind, wie Peter Neumann Teil der Thüringer Literaturszene wurde und was er u.a. zum Landschaftsgedicht zu sagen hat, hört ihr ab 15 Uhr in Jena und Umgebung auf UKW 103,4 MHz und im Kabel auf 107,90 MHz. Außerdem weltweit im Internet als Live-Stream auf http://radio-okj.de/.

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Peter Neumann (Foto: Dirk Skiba)

 

Die Sendung gibt es außerdem als Podcast zum Nachhören bei Soundcloud.