SUMMER EDITION Nachlese: Kinga Tóth

die Elbe

 

die frau ein seepferd der schenkel über ihrer schulter

ein fisch eine welle über eine meerjungfrau ist die Elbe

klänge aus dem orgelpfeifengrund

durch ihren mund gleichzeitig hinaus

atmend die luft

 

ihr körper durchbohrt für den gesang

orgelpfeifen herausgezogen atmet sie

luft durch den mund aus und

an neuen stellen auf ihrer oberfläche

angebrachte pfeifen durch enge spalten

singen aus ihrer brust

=Mensch=Erwartung=Funktion=Maschine=

Funktionsweisen, Erwartungshaltungen und Erwartungshaltungen an das Funktionieren von Körpern und Maschinen spielen eine zentrale Rolle in Kinga Tóths Gedichtband ALLMASCHINE. Mit kühlem, distanzierten Blick und einer reduzierten, fast mechanischen Sprache beschreibt sie das Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik, das seit der klassischen Moderne zum thematischen Kanon der Avantgarde gehört. Diese Traditionslinie ist den Texten nicht fest eingeschrieben, lässt sich jedoch mit ein paar Gedanken an Paul Klee oder Marcel Duchamp assoziativ herstellen, ohne dass Tóths Gedichte an Eigenwert verlieren. Die auf den ersten Blick stark deskriptiv wirkenden Texte offenbaren beim Wieder- und Wiederlesen die kritische Haltung, die mit der mechanischen Abfolge der Worte verbunden ist.

Tóths Personifizierung der Elbe etwa ist einerseits die eines skulpturalen, mythisch aufgeladenen Fabelwesens mit Dekofunktion. Andererseits ist sie ein cyborgähnliches Unterhaltungsinstrument, dass unter völliger Missachtung des Körpers zur qualvollen Attraktion „umgestaltet“ wird. Ähnlich ergeht es der Braut im archaisch-patriarchalen Korsett der Riten. Der weiße Schleier verhüllt den Körper, an den spätestens nach der prächtigen Hochzeitsfeier Erwartungen aus Pflicht und Funktion herangetragen werden. Als gejagtes Objekt kommt sie schließlich verwundet auf einem Eisbärenfell zum erliegen.

mo

braut

 

weiß war gar ihr schleier

als sie hereingeführt wurde

in das zimmer alles war weiß

ihre schleppe blieb hängen

an den holzdielen den aufgemalten

nägeln riss ab die puppenhaare nicht die haut

im feierlichen zimmer quartiert

sich ein die unberührte hier wartet sie

dass es klopft solange

in den schleier gewickelt die scham

mit puder betäubt mit honig

zusammengeklebt

 

dass es bricht dass es eine ehre werde

wartet auch das krachen im becken

samen muss in den körper gestopft werden

reiner samen sonst sterben wir aus

auf einem eisbärenfell

wartet sie auf das bluten

weiß besiegelt mit der scham

mit puder bestäubt mit honig

zusammengeklebt

 

Kinga Tóth – ALLMASCHINE. Gedichte. Ungarisch und deutsch. Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Edition Solitude: Stuttgart, 2014. (128 Seiten, 15,-€, ISBN: 978-3-937158-80-8)

Auch interessant: Eva Heissler über ALLMASCHINE im Asymptote Journal [english]