„seit monaten das erste gedicht, ein aufgeräumter computer, eigene lektüre statt durch jobs verordnete.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen die Wartezeit damit zu überbrücken einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Der Siegener Dichter Crauss war im November 2016 zu Gast bei In guter Nachbarschaft #11 in Erfurt.

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Crauss. (Foto: Crauss)

Lieber Crauss, wie geht’s dir derzeit?

bis auf einen etwas rebellischen weisheitszahn bin ich gesund und durchaus auch produktiv. seit monaten das erste gedicht, ein aufgeräumter computer, eigene lektüre statt durch jobs verordnete.

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder lähmt dich dieser Zustand eher?

das – wenn auch notgedrungene – innehalten in der distanzzeit tut durchaus gut, zumindest zum verschnaufen. trotzdem fehlt mir das ausgehen. auch das fahrradfahren. ich bin kein ausflugs-radler, sondern nutze die gelegenheit, beruflich von x nach z zu kommen, um fit zu bleiben. zielorientiert also. das fällt jetzt weg und ist der grund für gelegentliches decke-auf-den-kopf.

Derzeit versorgst du deine Nachbarschaft mit Lyrikpäckchen. Wegen der drohenden Decke über’m Kopf oder wie bist du darauf gekommen?

einerseits mache ich das natürlich, um überhaupt einmal rauszukommen. eine kleine werbeaktion kann aber ausserdem nicht schaden. die leute sehen mich normalerweise auf dem rad und fragen sich vielleicht: wer ist das denn genau im letzten haus dort drüben? die lyrikkärtchen haben den vorteil einer kleinen unterhaltung für zwischendurch, gleichzeitig lernen die nachbarn mich besser kennen.

Woran hast du in den letzten Monaten gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

meine brotjobs haben so viel zeit gefressen, dass ich kaum zu eigenen, literarischen dingen gekommen bin. jetzt habe ich gelegenheit, ein projekt wiederaufzunehmen, das sich mit texten zur kunst beschäftigt. konkreter: gedichte zu gemälden, holzschnitten und graphiken.

Welche Projekte sind bei dir derzeit zum erliegen gekommen?

das geldverdienen. ausgefallene autorenlesungen, die nun ersatzweise online gehen, bringen natürlich nicht das honorar ein, das sie „live“ gebracht hätten.

Ja, es gibt derzeit einige Streams von Lesungen. Vor allem natürlich von Autor:innen, die erst kürzlich ein neues Buch veröffentlicht haben. Man überlegt sogar die Absage des Bachmannpreises rückgängig zu machen und das Format ins Online-Zeitalter zu hieven. Ist das deiner Meinung nach eine Chance, die diese Krise bietet – also anspruchsvolle Literatur auf anderen Kanälen zu vermitteln?

das mit dem anspruch ist so eine sache und hängt womöglich nichtmal mit den gezeigten inhalten zusammen, sondern mit den verwendeten medien. einerseits bin ich sehr dafür, Bachmann online bzw. im TV zu übertragen – wie es ja all die jahre sowieso gemacht wurde – gerade eine solche veranstaltung sollte aber professionell abgefilmt werden und nicht autoren zeigen, denen nicht bewusst ist, dass man den spiegel-modus der selfie-kamera auch auf „normal“ stellen kann (so dass schriften sich richtig herum zeigen zb.). grisselbilder mit mittelmässiger auflösung mögen für einen teaser auf insta oder für eine kurzpräsentation auf facebook in ordnung sein, aber nicht für eine bezahlte lesung. und ich finde, online-lesungen dürfen durchaus einen kleinen „eintritt“ kosten. von veranstalterseite SOLLTEN sie es sogar, bzw: sollte es honorar geben für die autoren*. wenn mich bella triste, manuskripte etc einladen, muss sich das bitte bemerkbar machen.

Du selbst bespielst ja nun auch regelmäßig einen YouTube-Kanal mit Lyrikclips. Als direkte Reaktion auf die gegenwärtige Situation?

ja und nein. einerseits möchte ich natürlich auch beim derzeitigen online-rummel mitspielen (wenn schon die leipziger buchmesse ausgefallen ist). andererseits bestücke ich aber zb. instagram und meinen youtube-kanal ohnehin immer wieder mit kurzen poesiefilmchen. dass das derzeit mehrere pro woche sind, hat aber schlicht damit zu tun, dass ich wegen vieler ausgefallener lesungen dazu komme, endlich mal meinen computer aufzuräumen …

Welche Hilfen erwartest du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

ich „erwarte“ eine ersatzzahlung des landes [Nordrhein-Westfalen – Anm. M.O.], die über den betrag hinausgeht, der im moment für jeden einzelnen künstler bereitsteht. meine ausfälle übersteigen die angebotene summe. ich „wünsche“ mir jedoch, dass die krise anlass gibt, intensiver und ernsthafter als bisher über ein allgemeines grundeinkommen – nicht nur für künstler – nachzudenken.

Vielen Dank für deine Antworten und bleib gesund!

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Crauss, geb. 1971, lebt in Siegen/D und ist Kulturpädagoge (u.a. Uni Siegen sowie verschiedene Schulen). Er wurde Mitte der 1990er Jahre durch neue, produktive Verfahren einer Videoclip-Ästhetik in der Lyrik einem breiteren Publikum bekannt.

Crauss wurde mit wichtigen Stipendien gefördert, mit Literaturpreisen ausgezeichnet, seine Dichtung in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Neben populärwissenschaftlichen Essays und »gesprochenen Liedern« sind die letzten Veröffentlichungen: DIE HARTE SEITE DES HIMMELS. Pilotengedichte. und SCHUNDFAKTOR: HYBRIDE & DESTILLATE. Essays.

http://crauss.de/