„Die Männer reichen sich jetzt das Bier mit langen Stöcken über den Zaun.“

Die COVID19-Pandemie stellt viele Menschen innerhalb der Kulturlandschaft und weit darüber hinaus vor ungewisse Wochen und Monate. Auch wir wissen noch nicht, wann es mit In guter Nachbarschaft weitergehen wird. Wir haben uns dazu entschlossen, die Wartezeit damit zu überbrücken, einige Künstler:innen unserer vergangenen Veranstaltungen zu befragen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Im Sommer 2018 war Stefan Petermann zu Gast bei der 17. Ausgabe von IN GUTER NACHBARSCHAFT in Jena.

stefan
Stefan Petermann (Foto: J. Rom)

Lieber Stefan, wie geht’s dir derzeit?

Ich fühle mich erschöpft und hellwach, besorgt und sicher, neugierig und apathisch, überfordert und unterfordert, ein Nebeneinander verschiedener Zustände, die sich zum Teil widersprechen. Das Verwirrende an der Situation ist deren Unsichtbarkeit. Die eigentliche Gefahr bleibt fern und wird erst durch Berichte, Fotos, Texte nahe herangeholt. Dagegen sind die Veränderungen der Abläufe und Routinen ganz real jederzeit da. Auch deshalb gibt es verschiedene Sorgen; Sorge um Familie und Freunde zuallererst. Sorge um die Pläne, verbunden auch mit wirtschaftlichen Fragen. Und, abstrakter, eben weil es dafür die fernen Augenzeugenberichte und erschütternden Protokolle aus den Ländern braucht, die medizinischen und menschlichen Tragödien, auch eine Sorge um die Welt, die Gesellschaft. Was so aufgeschrieben erst einmal wahnsinnig pathetisch klingt, aber sehr konkret wird, wenn ein Polizeiauto abstandkontrollierend im Park an mir vorbeifährt und ich mir sage: Ich finde das notwendig, ich finde das furchtbar.

Kannst du die Zeit zu Hause kreativ nutzen oder bremst dich dieser Zustand eher aus?

Momentan lese ich mehr Peppa Wutz als Marcel Proust.

Woran hast du in den letzten Monaten gearbeitet, bevor sich die aktuelle Corona-Situation eingestellt hat?

An etwas Längerem, das sich mit einer Ausnahmesituation beschäftigt. Ab Mitte März habe ich gemerkt, dass sich zwei Extreme zugleich nicht bewältigen lassen, weshalb ich vorerst nur noch sporadisch daran arbeite.

Welche Projekte sind bei dir derzeit zum Erliegen gekommen?

Das lange Schreiben, das apokalyptische, das hoffnungsferne Schreiben. Das ist momentan nicht möglich. Es gibt die Anfrage, sich für eine Anthologie eine Geschichte für Kinder über diese Zeit auszudenken. Das finde ich sehr hilfreich, weil es zwingt, Hoffnung in die Worte zu geben.
Für März & April waren mehrere Lesungen angesagt, auf die ich mich sehr gefreut hatte. Die sind nun weggefallen. Dazu ein künstlerisches Projekt, von dem nicht klar ist, wie es weitergeht.
Neben dem Wegfall hat sich auch Neues aufgetan. Im Februar habe ich begonnen, täglich einige Worte zur Situation zu notieren. Zuerst still, auch, weil ich nicht ertappt werden wollte bei einer Überreaktion. Was, wenn es doch vorbeigegangen wäre wie die Waldbrände in Australien; ein kurzer Aufreger, bevor bald jeder von … gesprochen hätte?
So ab Mitte März habe ich das Geschriebene öffentlich ausgestellt. Mir ist bewusst, dass es viele solcher Auseinandersetzungen gibt; Tagebücher, Kolumnen, Podcasts, lustige TikToks. Jedes einzelne davon ist notwendig und sei es nur für diejenige, die es verfasst. So auch bei mir. Ich habe gemerkt, dass mir diese Stunde am Abend beim Ordnen der Eindrücke von innen und außen hilft. Das Schreiben schafft ein Gefühl von Kontrolle, lässt mich glauben, dass das, was geschieht, sich in ein Datum tippen ließe, fein säuberlich durch Tage getrennt. Es ist ein Sammeln von Gedanken, auch ein neugieriges Beiwohnen beim Verändern einer Realität, ein Auflisten von Fundstücken, ein Zuschauen dabei, wie sich die Ausnahme verfestigt.
Und, noch eine Sache: Für einen Fernsehsender sollten kurze Dokumentationen entstehen, die zeigen, wie die Pandemie das Leben hier verändert. Zusammen mit meinen Kollegen bin ich in ein sehr kleines Dorf gefahren, das wir vom letzten Buchprojekt kennen. Das Dorf liegt so ein bisschen jenseits der Welt, nur ein Weg führt ins Tal hinein. Die Fahrt dahin war schon leicht surreal, vor Jena liefen Rehe auf die leere Autobahn. Im Dorf ging es darum, festzuhalten, was dort jetzt anders ist. Eigentlich nicht viel, wie die Menschen fast ein wenig entschuldigend sagten. Die Männer reichen sich jetzt das Bier mit langen Stöcken über den Zaun. Und der Spielplatz ist abgesperrt. Ansonsten geht das meiste seinen Gang; Gartenarbeit, Hausbau, Holz aus dem Forst holen, die Osterlämmer auf die Wiese bringen. Das war fast schon idyllisch, die zwei Drehtage dort haben sehr gutgetan.

Welche Hilfen erhoffst du von Seiten der Entscheidungsträger:innen für freischaffende Künstler:innen?

In Thüringen gibt es eine unbürokratische Hilfe; zwei Seiten, wenige Angaben genügen schon. Das ist eine gute Sache. Der Antrag befindet sich momentan – Zitat Infomail – »zur weiteren Prüfung« und ich hoffe, dass dieser und die Anträge anderer nicht auf halbem Weg verloren gehen, weil die Hilfe erst einmal einen kleinen Teil der allgemeinen Unsicherheit nehmen würde.
Wenn man Musik, Literatur, Kunst macht, versucht man sich momentan möglicherweise mehr oder minder verzweifelt eine Systemrelevanz einzureden. Und dann kommt man zur Supermarktverkäuferin, die sich zwanzig Mal am Tag anbrüllen lassen muss, weil sie nur eine Packung Toilettenpapier pro Kunde verkaufen darf oder hört von der Cousine, dass sie als Ärztin Ostern komplett durcharbeiten muss und im Übrigen die Desinfektionsmittel von der Station geklaut werden und muss dann das eigene Wort oder die eigene Melodie dagegensetzen. Das sind lapidare eigene Probleme und zugleich riesengroße, weil sie auch nach der Sinnhaftigkeit dessen, was man tut und kann, fragt.
Zudem ist das eine Situation, deren Schwierigkeit – neben vielem anderen – auch in ihrer unbekannten Länge besteht. Es ist nicht möglich, Veranstaltungen zu planen, sowohl als Autor wie auch als literarischer Verein. Sollen Lesungen für Mai, für Juni abgesagt werden? Alle Lesungen bis Spätsommer? Und wenn alles auf den Herbst verschoben wird, gibt es dann ein Überangebot an Veranstaltungen? Braucht es sogar dieses Überangebot, um den vermuteten Hunger auf Livesachen zu stillen? Oder soll man erst für 2021 planen, wie Virologen empfehlen, für Sommer 2021? Auch wenn sich Lesungen nachholen lassen, verschieben sich so die dann sonst möglichen Veranstaltungen. Man landet immer wieder dabei: Was jetzt verloren geht, geht für immer verloren.

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Stefan Petermann, geboren 1978 in Werdau, schreibt Romane und Erzählungen. Er studierte an der Bauhaus-Universität Weimar. 2009 erschien sein Debütroman Der Schlaf und das Flüstern. Er erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen. Seine Erzählungen nebenan, Die Angst des Wolfs vor dem Wolf und Der Zitronenfalter soll sein Maul halten wurden verfilmt. Er war Stadtschreiber im oberösterreichischen Wels und lebt in Weimar. Zuletzt erschien von ihm der Reportagenband Jenseits der Perlenkette (gemeinsam mit Yvonne Andrä).

http://stefanpetermann.de/

ALTERNATIVEN ZUR KAPITULATION

Rückschau: In guter Nachbarschaft #17

Auch in diesem Jahr gab es im Rahmen unserer Lesereihe wieder eine Veranstaltung mit aktuellen und früheren Preisträger*innen des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen. Am 29.6. lasen Stefan Petermann, Mirandolina Babunashvili und Lennardt Loß im schönen Café Paradise Birds in Jena.

Die Kooperation mit dem Jungen Literaturforum ist für uns nicht nur zur schönen Tradition geworden, sondern bedeutet für uns eine nachhaltige und langfristige Förderung des literarischen Nachwuchses im Freistaat und darüber hinaus.

Lennardt Loß, der vor zwei Jahren bei unserer Summer Edition im Jenaer Paradies seine allererste Lesung bestritt, kehrte zu uns zurück und las nicht nur seinen jüngst prämierten Text Das Ascheroda Rindermassaker, sondern auch seinen vormaligen Preistext Russischer Tango. „So schließt sich also der Kreis“, sagte er an diesem Abend, bevor er zum Bachmannpreis nach Klagenfurt aufbrach.

Mirandolina Babunashvili las ihren aktuellen Preisträgerinnentext Dreizehn, für den sie zudem mit dem hr2-Literaturpreis 2018 ausgezeichnet wurde. Sie setzte sich damit in einer Publikumsabstimmung gegen die anderen Preisträger*innen des diesjährigen Jungen Literaturforums durch. Zudem stellte sie ihren berührenden Text Im März vor, der von der existentiellen Not einer jungen Mutter im Krieg erzählt.

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Der Weimarer Autor Stefan Petermann, dessen literarischer Weg als Preisträger des Jungen Literaturforums 2004 begann, stellte schließlich einige seiner literarischen Facebook-Postings vor. Darin kommentiert er auf satirische, tiefgehende und sprachlich raffinierte Weise Ereignisse aus dem aktuellen Politik- und Mediengeschehen. Zudem las er aus einem noch unveröffentlichten Text, der von einem ebenso traurigen wie absurden Lebensweg eines Asylsuchenden in Deutschland erzählt.

Beschlossen wurde der Abend mit einem Autor*innengespräch in dem Loß, Babunashvili und Petermann von ihren Erfahrungen mit dem Jungen Literaturforum erzählten und Einblicke in ihre aktuellen Arbeitsprozesse gaben.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Zuhörer*innen, den Autor*innen und dem Team vom Paradise Birds für den gelungenen Abend. Die Literarische Gesellschaft Thüringen, die Thüringer Staatskanzlei und das Hessischen Literaturforum im Mousonturm haben diese Veranstaltung großzügig gefördert. Auch dafür ein herzlicher Dank.

(Fotos: Anne Osterland)

Die nächste Ausgabe von IN GUTER NACHBARSCHAFT findet am 26.10. in Erfurt (Franz Mehlhose) statt. Es lesen und performen dann Niklas L. Niskate und Robert Prosser.

29.6. – Jena – IN GUTER NACHBARSCHAFT #17 – Junges Literaturforum Edition

Lesung mit Preisträger*innen des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 2018.

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Freitag, 29. Juni 2018 – 19:30 Uhr

Paradise Birds (Vor dem Neutor 4, 07743 Jena)

Eintritt: 5,-€/ ermäßigt 3,-€ (nur Abendkasse)

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Das Junge Literaturforum Hessen-Thüringen schreibt jedes Jahr einen Literaturwettbewerb aus, an dem sich 16- bis 25-Jährige mit Wohnsitz in Hessen und Thüringen beteiligen können. Bei der unabhängigen Lesereihe In guter Nachbarschaft gehört es zur guten Tradition, die aktuellen Preisträger*innen aus ihren prämierten Texten lesen zu lassen: Texte, die unserer eigenen Gegenwart auf der Spur sind, Stimmen, die uns von jetzt an begleiten werden.

In diesem Jahr freuen wir uns besonders auf das Wiedersehen mit Autor*innen, die bereits zuvor bei uns zu Gast waren oder durch verschiedene Kooperationen mit unserer Lesereihe mit uns verbunden sind.  Durch den nachhaltigen Kontakt den wir mit eingeladenen Autor*innen pflegen, ergibt sich für das Publikum in diesem Jahr die Möglichkeit sowohl Entwicklungen zweiter Nachwuchsautor*innen, als auch die Fortschreibungen eines bereits etablierten Schriftstellers nachzuvollziehen.

LENNARDT LOSS, geb. 1992 in Braunschweig, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Jena und Frankfurt am Main. Seit 2017 arbeitet er als freier Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er wurde beim diesjährigen Jungen Literaturforum für Das Aschenroda Rindermassaker ausgezeichnet und ist in diesem Jahr Teilnehmer beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Sein Debüt erscheint im Frühjahr 2019 bei weissbooks.

MIRANDOLINA BABUNASHVILI, geb. 1996 in Kaiserslautern, wuchs in Darmstadt auf und studiert seit 2015 Internationale Beziehungen und Sozialwissenschaften an der Universität Erfurt. 2017 war sie Teilnehmerin am Literaturlabor Wolfenbüttel.

STEFAN PETERMANN, geb. 1978 in Werdau, studierte an der Bauhaus-Universität in Weimar. 2009 erschien sein Debütroman Der Schlaf und das Flüstern. Er erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen. 2015 war er Stadtschreiber im österreichischen Wels. Für seinen Roman Das Gegenteil von Henry Sy erfand er die Hauptfigur auf Facebook. Zuletzt erschien der Erzählband Der weiße Globus.

Der Abend wird moderiert von Peter Neumann und Mario Osterland.

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Die Reihe In guter Nachbarschaft ist ein Projekt der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V. und wird unterstützt durch die Thüringer Staatskanzlei. Mit freundlicher Unterstützung des Hessischen Literaturforums im Mousonturm e.V.

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In guter Nachbarschaft ist Teil der Initiative Unabhängige Lesereihen: http://lesereihen.org/

Rezension: „Der weiße Globus“

Gar nicht so erwartbar 

Stefan Petermanns Erzählband Der weisse Globus

Da steht dieser ausgewachsene Kerl vor einer Meute Halbwüchsiger und deren Eltern. Er soll verkünden was er vor Ort erlebt hat – in Syrien. Schon der Titel Sag was über Syrien zeigt auf, hier führt eine Erzählung vor, was so oft im Alltag passiert: Es gibt eine Erwartung, die das Individuum unmöglich einhalten kann. Als Restaurator und Kunsthistoriker präsentiert der Mann dann auch nicht unbedingt das Bild, welches man auf einem Kuchenbasar zugunsten syrischer Kinder erwartet hätte.

Da steht dieser ausgewachsene Kerl vor einem verstopfen Abflussrohr und kämpft mit allen Tricks darum es wieder frei zu bekommen. Und als das Wasser wieder fließt hat er eine Story, die ihn über Wochen auf einer Welle der Euphorie trägt – Das Ende der Geschichte wird jedoch ein anderes sein.

Da sitzt dieser ausgewachsene Kerl in der Schweiz vor einem weißen Globus. Alle Länder außer der Schweiz sind überstrichen. Er verzichtet auf Radio, Zeitung, Fernsehen. Er verzichtet auf ein ausgeprägtes soziales Umfeld. Bücher liest er nur, wenn sie mindestens zweihundert Jahre alt sind. Der Erzähler präsentiert ihn im Moment eines großen Aufbruchs mit dem gepackten Rucksack auf dem Rücken. Bereit für die Entdeckung des bereits Entdeckten.

Das sind drei Beispiele für die 18 Erzählungen aus den Jahren 2005-2016, die Stefan Petermann (Jg. 1978) im Band Der weiße Globus versammelt. Stilistisch, formal, thematisch sind die Texte nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Vom surreal und dystopisch anmutenden Wo wir schlafen werden – meiner Lieblingserzählung des Bandes – bis zum Bericht über die Nichtentstehung des eigentlich gewünschten Berichtes in Die Sommerfrische am Ende der Straße nimmt Petermann ein solch breites Spektrum auf sich, dass die Frage aufkommt, wie der Band zusammenhält, ohne dass er als „Best Of“ aus zehn Jahren oder reine Sammelarbeit abgetan werden kann. Die Antwort finden wir in der Erzählhaltung Petermanns. Hier wird nicht auf Effekte gesetzt. Hier wird nicht mit einer neuen Poetik experimentiert. Petermann bewegt sich im kompletten Spektrum der Kurzprosa ohne radikale Neuerungen zu versuchen. Stilistisch fällt die kühle Stimme des Erzählers auf, der bei einigen Beschreibungen einen fabulierenden und etwas ausschweifenderen Ton annimmt. Insgesamt ist der Band sprachlich klar und geprägt von prägnanten, kurzen Sätzen.

Die im lakonischen Timbre vorgetragenen Episoden sind da am stärksten, wo sie die Welt auf surreale Art und Weise, wie in Quirins Sinn oder Die Leiter zu beschreiben versuchen. Aber nicht nur die Übertragung des Primärreizes von den Augen auf die Zunge oder die Übersteigerung des Alltagsgegenstandes Leiter, auf eine unvorstellbare Größe erscheinen unwirklich. Auch die sanfte Andeutung der langen Galgenfrist des Kletterers in Der Vorsprung oder die abgeklärte Schilderung der eigenen Situation eines durch das Eis Gebrochenen in Wune spielen mit der Übertreibung und einer bizarren Art der Wahrnehmung.

Eine weitere Stärke liegt in der Weise wir das Untergraben von Erwartungen und Gewohnheiten dargestellt wird. In der schon erwähnten Erzählung Die Sommerfrische am Ende der Straße erfüllt ein Schreiber die Ihm gestellte Aufgabe, ohne sie eigentlich tatsächlich zu erfüllen, indem er einfach den Erwartungen entspricht. Statt wie gefordert das Salzkammergut aufzusuchen, begibt er sich nur an das Ende seiner Straße in ein Zimmer im Hotel „Greif“ und formuliert von hier aus einen Reisebericht aus den gängigen Stereotypen. Wenn in Das Geschenk eine selbstgemachte Kerze den eingeschliffenen Brauch der liebgewonnenen Flasche Wein als Mitbringsel ersetzt und damit eine ungeahnte Entwicklung lostritt, bringt uns Petermann ein sinnfälliges Beispiel dafür, was ein kleiner Akzent in einem von Konventionen geprägten Alltag verursachen kann. Wie bereits an anderer Stelle zeigt sich Petermann hier als aufmerksamer Beobachter, der die Schnittstellen aus Konventionen und Erwartungen zu analysieren und zu zerlegen weiß.

Darüber hinaus finden politische Themen Eingang in den Band. Neben der schon angesprochenen Episode, in der ein Kunsthistoriker die Gegenstände seines Fachs über die humanitäre Katastrophe vor Ort stellt, ist es der Text Björn Höcke zertritt asiatische Käfer, welcher sich mit aktuellen politischen Fragen befasst. Nicht nur sind dies die beiden jüngsten Texte des Bandes, sie sind auch jene mit den konkretesten Titeln. Wenn hier also ein „Björn Höcke“ asiatische Marienkäfer zertritt, die sich nur äußerlich durch ihre Färbung von den europäischen unterscheiden, wird eine bewusst groteske Situation eingeführt – die auf beiden Seiten eine unglaubliche Ohnmacht demonstriert. Auf der einen Seite der trampelnde Höcke, der mit Leichtigkeit den einzelnen Käfer beseitigen kann, auf der anderen Seite die Menge der Käfer gegen die der einzelne „ängstliche Aktivist wider die Überfremdung“ auf verlorenem Posten steht. Vielleicht deuten diese beiden jüngsten Erzählungen eine Art neue Tendenz im Schreiben Stefan Petermanns an.

Der weiße Globus probiert vor allem thematisch Vieles aus, bleibt aber dennoch ein gut gefügter Band von „Geschichten“, der neben Erzählungen dem Leser ein „Märchen“ und den lyrischen Text Wir Ahnen präsentiert. Der lakonische Ton des Erzählers und die immer wieder entlarvende Auflösung der Texte gewähren gute Unterhaltung ohne die Aussage zu vergessen. So lässt sich Der weiße Globus wie ein Wahrnehmungsbuch lesen, hält der Welt der Gewohnheiten einen Spiegel entgegen und vergisst nicht auf aktuelle Themen Bezug zu nehmen.

Patrick Siebert

Petermann, Stefan: Der weiße Globus, Wartburg-Verlag, Weimar 2017, 88 Seiten, 14,00 Euro.

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stefan
Stefan Petermann (Foto: J. Rom)

Stefan Petermann wurde 1978 in Werdau geboren. Er studierte an der Bauhaus-Universität in Weimar. 2009 erschien sein Debütroman Der Schlaf und das Flüstern. Er erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen. Seine Erzählungen nebenan, Die Angst des Wolfs vor dem Wolf und Der Zitronenfalter soll sein Maul halten wurden verfilmt. 2015 war er Stadtschreiber im österreichischen Wels. Für seinen Roman Das Gegenteil von Henry Sy erfand er die Hauptfigur auf Facebook. Er lebt in Weimar. 
http://www.stefanpetermann.de/

Patrick Siebert, geb. 1985 in Schmalkalden; Studium der Germanistik sowie der Neueren und Mittelalterlichen Geschichte an der Friedrich-Schiller Universität Jena; Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 2009; lebt in Erfurt. Bloggt hier: Schaudort.

Gar nicht so erwartbar 

Stefan Petermanns Erzählband Der weisse Globus

Da steht dieser ausgewachsene Kerl vor einer Meute Halbwüchsiger und deren Eltern. Er soll verkünden was er vor Ort erlebt hat – in Syrien. Schon der Titel Sag was über Syrien zeigt auf, hier führt eine Erzählung vor, was so oft im Alltag passiert: Es gibt eine Erwartung, die das Individuum unmöglich einhalten kann. Als Restaurator und Kunsthistoriker präsentiert der Mann dann auch nicht unbedingt das Bild, welches man auf einem Kuchenbasar zugunsten syrischer Kinder erwartet hätte.

Da steht dieser ausgewachsene Kerl vor einem verstopfen Abflussrohr und kämpft mit allen Tricks darum es wieder frei zu bekommen. Und als das Wasser wieder fließt hat er eine Story, die ihn über Wochen auf einer Welle der Euphorie trägt – Das Ende der Geschichte wird jedoch ein anderes sein.

Da sitzt dieser ausgewachsene Kerl in der Schweiz vor einem weißen Globus. Alle Länder außer der Schweiz sind überstrichen. Er verzichtet auf Radio, Zeitung, Fernsehen. Er verzichtet auf ein ausgeprägtes soziales Umfeld. Bücher liest er nur, wenn sie mindestens zweihundert Jahre alt sind. Der Erzähler präsentiert ihn im Moment eines großen Aufbruchs mit dem gepackten Rucksack auf dem Rücken. Bereit für die Entdeckung des bereits Entdeckten.

Das sind drei Beispiele für die 18 Erzählungen aus den Jahren 2005-2016, die Stefan Petermann (Jg. 1978) im Band Der weiße Globus versammelt. Stilistisch, formal, thematisch sind die Texte nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Vom surreal und dystopisch anmutenden Wo wir schlafen werden – meiner Lieblingserzählung des Bandes – bis zum Bericht über die Nichtentstehung des eigentlich gewünschten Berichtes in Die Sommerfrische am Ende der Straße nimmt Petermann ein solch breites Spektrum auf sich, dass die Frage aufkommt, wie der Band zusammenhält, ohne dass er als „Best Of“ aus zehn Jahren oder reine Sammelarbeit abgetan werden kann. Die Antwort finden wir in der Erzählhaltung Petermanns. Hier wird nicht auf Effekte gesetzt. Hier wird nicht mit einer neuen Poetik experimentiert. Petermann bewegt sich im kompletten Spektrum der Kurzprosa ohne radikale Neuerungen zu versuchen. Stilistisch fällt die kühle Stimme des Erzählers auf, der bei einigen Beschreibungen einen fabulierenden und etwas ausschweifenderen Ton annimmt. Insgesamt ist der Band sprachlich klar und geprägt von prägnanten, kurzen Sätzen.

Die im lakonischen Timbre vorgetragenen Episoden sind da am stärksten, wo sie die Welt auf surreale Art und Weise, wie in Quirins Sinn oder Die Leiter zu beschreiben versuchen. Aber nicht nur die Übertragung des Primärreizes von den Augen auf die Zunge oder die Übersteigerung des Alltagsgegenstandes Leiter, auf eine unvorstellbare Größe erscheinen unwirklich. Auch die sanfte Andeutung der langen Galgenfrist des Kletterers in Der Vorsprung oder die abgeklärte Schilderung der eigenen Situation eines durch das Eis Gebrochenen in Wune spielen mit der Übertreibung und einer bizarren Art der Wahrnehmung.

Eine weitere Stärke liegt in der Weise wir das Untergraben von Erwartungen und Gewohnheiten dargestellt wird. In der schon erwähnten Erzählung Die Sommerfrische am Ende der Straße erfüllt ein Schreiber die Ihm gestellte Aufgabe, ohne sie eigentlich tatsächlich zu erfüllen, indem er einfach den Erwartungen entspricht. Statt wie gefordert das Salzkammergut aufzusuchen, begibt er sich nur an das Ende seiner Straße in ein Zimmer im Hotel „Greif“ und formuliert von hier aus einen Reisebericht aus den gängigen Stereotypen. Wenn in Das Geschenk eine selbstgemachte Kerze den eingeschliffenen Brauch der liebgewonnenen Flasche Wein als Mitbringsel ersetzt und damit eine ungeahnte Entwicklung lostritt, bringt uns Petermann ein sinnfälliges Beispiel dafür, was ein kleiner Akzent in einem von Konventionen geprägten Alltag verursachen kann. Wie bereits an anderer Stelle zeigt sich Petermann hier als aufmerksamer Beobachter, der die Schnittstellen aus Konventionen und Erwartungen zu analysieren und zu zerlegen weiß.

Darüber hinaus finden politische Themen Eingang in den Band. Neben der schon angesprochenen Episode, in der ein Kunsthistoriker die Gegenstände seines Fachs über die humanitäre Katastrophe vor Ort stellt, ist es der Text Björn Höcke zertritt asiatische Käfer, welcher sich mit aktuellen politischen Fragen befasst. Nicht nur sind dies die beiden jüngsten Texte des Bandes, sie sind auch jene mit den konkretesten Titeln. Wenn hier also ein „Björn Höcke“ asiatische Marienkäfer zertritt, die sich nur äußerlich durch ihre Färbung von den europäischen unterscheiden, wird eine bewusst groteske Situation eingeführt – die auf beiden Seiten eine unglaubliche Ohnmacht demonstriert. Auf der einen Seite der trampelnde Höcke, der mit Leichtigkeit den einzelnen Käfer beseitigen kann, auf der anderen Seite die Menge der Käfer gegen die der einzelne „ängstliche Aktivist wider die Überfremdung“ auf verlorenem Posten steht. Vielleicht deuten diese beiden jüngsten Erzählungen eine Art neue Tendenz im Schreiben Stefan Petermanns an.

Der weiße Globus probiert vor allem thematisch Vieles aus, bleibt aber dennoch ein gut gefügter Band von „Geschichten“, der neben Erzählungen dem Leser ein „Märchen“ und den lyrischen Text Wir Ahnen präsentiert. Der lakonische Ton des Erzählers und die immer wieder entlarvende Auflösung der Texte gewähren gute Unterhaltung ohne die Aussage zu vergessen. So lässt sich Der weiße Globus wie ein Wahrnehmungsbuch lesen, hält der Welt der Gewohnheiten einen Spiegel entgegen und vergisst nicht auf aktuelle Themen Bezug zu nehmen.

Patrick Siebert

Petermann, Stefan: Der weiße Globus, Wartburg-Verlag, Weimar 2017, 88 Seiten, 14,00 Euro.

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Stefan Petermann (Foto: J. Rom)

Stefan Petermann wurde 1978 in Werdau geboren. Er studierte an der Bauhaus-Universität in Weimar. 2009 erschien sein Debütroman Der Schlaf und das Flüstern. Er erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen. Seine Erzählungen nebenan, Die Angst des Wolfs vor dem Wolf und Der Zitronenfalter soll sein Maul halten wurden verfilmt. 2015 war er Stadtschreiber im österreichischen Wels. Für seinen Roman Das Gegenteil von Henry Sy erfand er die Hauptfigur auf Facebook. Er lebt in Weimar. 
http://www.stefanpetermann.de/

Patrick Siebert, geb. 1985 in Schmalkalden; Studium der Germanistik sowie der Neueren und Mittelalterlichen Geschichte an der Friedrich-Schiller Universität Jena; Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 2009; lebt in Erfurt. Bloggt hier: Schaudort.